Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Mersijas Augen

Auslenda im Wirtschaftswunderland: In seinem Debüt „Gegen die Träume“ erzählt Sead Husić kraftvoll von den „Jugos“ in der Bundesrepublik. | Von Rüdiger Rossig

Der Journalist, Werbetexter und nun auch Schriftsteller Sead Husic ist das, was man auch fünfzig Jahre nach Beginn der jugoslawischen Einwanderung nach Westdeutschland manchmal noch als Gastarbeiterkind bezeichnet.

Sein literarisches Debüt „Gegen die Träume“ ist aber kein typischer Gastarbeiterroman. Es ist kein Drama über verlorene alte Heimat und Schwierigkeiten beim Einfinden in die neue. Es ist etwas viel Besseres: eine hyperrealistische und schonungslose, zugleich aber auch empathische und liebevolle Darstellung des Lebens dieser Arbeitsmigranten, die seit dem Anwerbeabkommen von 1968 in die Bundesrepublik gekommen sind, und zwar aus deren Sicht.

Liebe und Hass, Freundschaft und Feindschaft, Erfolg und Misserfolg, Glück und Unglück, Vorurteil und Verständnis – das alles ist bei diesem Autor nie weit voneinander entfernt. Weder idealisiert noch verteufelt er die Verhältnisse im sozialistischen Herkunftsland, und die im vom Wirtschaftswunder geprägten Aufnahmeland Bundesrepublik auch nicht.

„Gegen die Träume“ dreht sich vielmehr ums Abreisen und Ankommen, um das nicht immer konfliktfreie Verhältnis zwischen Einheimischen und Zuwanderern, um Sex, um Gewalt zwischen Erwachsenen – und gegen Frauen und Kinder. Die „Auslenda“ und die Deutschen beschreibt Husic dabei so kraftvoll und plastisch, dass sie immer Menschen bleiben, die Hoffnungen haben und letztendlich alle von einem besseren Leben träumen.

Der Roman ist aus weiblicher Perspektive geschrieben. Seine Hauptperson heißt Mersija, ihre balkanische Heimatstadt hat sie verlassen, weil sie Angst hatte, dass sie zum selben Schicksal verdammt sein könnte wie ihre Mutter Saliha, die als Kind mit Ahmed verheiratet wurde, dem „Großversager“, der sein ererbtes Vermögen mit Glücksspiel und einer Hure verprasst hat. Die Geschichte von Mersjias Eltern und vor allem ihres Vaters unterbricht Mersijas eigene Geschichte im Roman, so wie deren Folgen Mersijas Leben durchbrechen.

Auch das Herkunftsland verändert sich

Durch Mersijas Augen lernen wir ihren lügenden und fremdgehenden Mann Muso kennen, den gemeinsamen Sohn Adem und dessen deutschen besten Freund Ralph, dessen Mutter Christine, die lebenslustige Nada, die ihren vor Liebe blinden Mann Sava mit dem reichen deutschen Hotelbesitzer Bernd betrügt, „Frau Schmidt“, eine Vertriebene aus Böhmen und pensionierte Ärztin, Adems und Ralphs Schulkameradin Svetlana, ihre Mutter Mira und deren sadistischen Mann Kadrija.

Husics Romanhelden sind aus Bosnien, Serbien, dem Kosovo – ärmeren Teilen der damaligen jugoslawischen Föderation – ins westdeutschen Wirtschaftswunderland gekommen. Dort ist die alte Heimat einerseits immer präsent; andererseits merken die „Jugos“ in Deutschland nicht, dass sich ihr Herkunftsland im Verlauf der 1980er rasend verändert. Sozialismus und Kapitalismus, Islam und Christentum, Alkohol, Glücksspiel, Betrug, Brandstiftung, Mord, Selbstmord und Krieg: Husic lässt die Jahrzehnte lebendig werden durch die Menschen, die er eindringlich beschreibt.
Das Buch

Dass die Personen in „Gegen die Träume“ oft nur angeschnitten werden, ist Mersijas Perspektive geschuldet: Wir LeserInnen lernen so viel wie sie über die Menschen, denen Husics Heldin begegnet. Erst spät erfahren wir, dass Adems Großvater als Kind dem „Šjetan“, wie die Muslime den Satan nennen, begegnet ist. Trotz dieses Fluches hat er die Hoffnung auf ein gutes Leben erst als reifer Mann aufgegeben.

Sein Enkel Adem ist dem Opa nie begegnet. Er hatte dagegen schon „immer gewusst, dass es keine gute Zukunft geben würde“ für seine Eltern und die anderen „Jugos“; „dafür hatten sie sich zu viel vorgenommen. […] Sie waren für ihre Träume nicht bestimmt gewesen, und weil sie das nicht wussten, liefen sie in ihr Verderben.“ Die Ablehnung des Traums vom besseren Leben wird Adems Mantra.

Traunstein, der Ort, in dem der Autor aufwuchs, taucht nur einmal auf. Nicht nur das zeigt, dass „Gegen die Träume“ keine Autobiografie ist. Husic schöpft aus eigenen Erfahrungen; aber er bleibt nicht an ihnen hängen.

Sead Husic: "Gegen die Träume". Divan Verlag, Berlin 2018. 400 Seiten 16,90 Euro

Text bei taz.de

taz