Schon wieder Jugoslawien? Die Frage, mit der Holm Sundhaussen seine Geschichte der Balkanföderation und ihrer Nachfolgestaaten beginnt, ist keine rhetorische. Vielmehr benennt der seit 2007 emeritierte Professor für Südosteuropäische Geschichte an der FU Berlin gleich auf den ersten Seiten, warum uns der Vielvölkerstaat 22 Jahre nach seinem Ende interessieren sollte.
Vor allem sind die zentralen Fragen nach wie vor offen: Ist der Staat, den die kommunistischen Partisanen unter Josip Broz Tito 1943 gegründet hatten, am Sozialismus gescheitert? Oder an seiner multinationalen und -religiösen Bevölkerung? Und wenn Letzteres: Ist das ein Menetekel für andere multikulturelle Staaten, etwa die EU? Welche Rolle spielte das Ausland? Wie konnten Menschen, die jahrzehntelang friedlich Tür an Tür lebten, übereinander herfallen? Und: Wie steht es um die Nachfolgestaaten?
Sundhaussen lobt die erfolgreiche Modernisierung im sozialistischen Jugoslawien von der Massen-Alphabetisierung nach 1945 über die Industrialisierung der 1950er und 60er bis hin zum Siegeszug der Popkultur in den 70ern und 80ern. Er zeigt, dass hinter dem blutigen Ende des Vielvölkerstaats kein "Clash of Civilizations" steht. Vielmehr geriet Titos sozialdemokratischer Polizeistaat in eine Krise, auf die die Herrschenden katastrophal reagierten.
Das sozialistische Jugoslawien beschreibt der Historiker als von ca. 14.000 Personen beherrschte Cliquenwirtschaft mit schwachen Institutionen und einer wenig entwickelten Zivilgesellschaft. Als nach dem Ölpreis-Schock Verteilungskämpfe ausbrechen, erweisen sich die Eliten in den Teilrepubliken - allen voran in Serbien - als kompromissunfähig, aggressiv und destruktiv.
Diese Eliten-Unkultur wirkt bis heute in den Nachfolgestaaten, was die - mit Ausnahme Sloweniens - ärmlichen, halbdemokratischen Zustände dort erklärt. Das gilt auch für Kroatien, das 2013 der EU beitreten wird. Angesichts dessen zeigt Sundhaussen einiges Verständnis für die in Exjugoslawien weitverbreitete "Jugonostalgie".
Die Rolle der "internationalen Gemeinschaft" seit Kriegsbeginn 1991 beschreibt Sundhaussen extrem kenntnisreich - und sehr kritisch. Bei der Erklärung der Brutalität der ethnischen Säuberung, der Massen-Vergewaltigungen und Massenmorde zeigt sich der Historiker offen für andere wissenschaftliche Zugänge wie Soziologie, Biografieforschung oder Psychologie.
Am Ende fasst Sundhaussen zusammen: Jugoslawien war in vielerlei Hinsicht ein ganz normaler Staat. Sein Ende ist ein Einzelfall, der sich so nicht wiederholen wird. Aber die Konflikte, die zu diesem Ende führten, haben so einige Ähnlichkeiten mit Problemen, die auch andere Staaten und Staatenbünde haben. Etwa die EU. Wenn den Akteuren dort und anderswo bewusst ist, wozu das kompromisslose Handeln der Eliten im jugoslawischen Fall geführt hat, dann kann das zu konstruktiven Lösungen beitragen.
Holm Sundhaussen: "Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 - 2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen". Böhlau, Wien 2012, 567 S., 59 Euro