Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Südosteuropäische Spezialitäten

Heute eröffnet das erste South East European Film Festival in Berlin mit einer Geschichte über die Schattenseiten und verschwiegenen Traumata des ehemaligen Jugoslawiens – „Naked Island“ | Von Rüdiger Rossig 

Zigeunermusik, verrückte Typen, schrille Farben: Das erwartet das westliche Publikum seit Emir Kusturica von Filmen vom Balkan. Abseits dessen haben die Kinematografien der Länder Südosteuropas, wie die größte Halbinsel unseres Kontinents geografisch heißt, nicht viel miteinander zu tun – oder?

Was die Filmproduktion an der südöstlichen Peripherie Europas trennt bzw. verbindet, zeigt das heute beginnende South East European Film Festival SEEFF umso deutlicher, weil nicht bloß die Balkanstaaten im engeren Sinne teilnehmen – also Albanien, Bulgarien, Griechenland, die sieben Nachfolgestaaten Jugoslawiens und Rumänien –, sondern auch die Republik Moldau, die Türkei, Ungarn und Zypern.

Entsprechend bietet das Festival einen wilden Mix an Themen und Genres, an Schauspielern, Regisseuren und Stilen aus ganz verschiedenen Filmtraditionen und -schulen. Es geht um existenzielle Krisen Einzelner, Liebe, Sex, Gewalt, Einsamkeit und Beziehungen, übergewichtige Kinder, Krieg und Diktatur.

Erfahrung mit Militärjuntas und kommunistischen Regimen ist eine Klammer, die alle SEEFF-Teilnehmerländer verbindet. Ein absolutes Muss für alle, die sich für die Schattenseiten der Geschichte des sozialistischen Jugoslawiens interessieren, ist dabei der Eröffnungsfilm.

Tonnen von Sand

Im Zentrum der Doku „Naked Island“ (Die nackte Insel) steht der Großvater der kroatischen Regisseurin Tiha Gudac. Der wurde in Titos Jugoslawien denunziert, verhaftet und zu vier Jahren Zwangsarbeit auf Goli otok, einer der fast kahlen Adria-Inseln, verurteilt.

In diesem Umerziehungslager wurden die Insassen auf jede erdenkliche Weise misshandelt: In 12-Stunden-Schichten mussten sie mit primitivstem Werkzeug bei glühender Hitze Tonnen von Sand von einer Stelle der Insel zur anderen transportieren – und dann wieder zurück. Genug zu trinken, zu essen und eine erträglichere Behandlung durch das Wachpersonal bekam nur, wer alle „Verbrechen“ zugab, deren er beschuldigt wurde – egal wie absurd die Vorwürfe waren.

Zwischen 11.000 und 18.000 Frauen und Männer waren zwischen 1949 und 1988 auf der Nackten Insel gefangen. Wer von dort zurückkam, brauchte dringend eine Psychotherapie. Aber die Insassen mussten vor der Entlassung schwören, nicht über ihre Erlebnisse sprechen.

Also trugen sie ihre Traumata mit nach Hause – in ihre Familien hinein. So wie Tiha Gudacs geliebter Opa. „Du warst ja noch zu klein und kannst dich nicht erinnern, wie er nachts geschrien hat“, erzählt ihre ältere Schwester im Interview. Mithilfe vieler solcher Gespräche mit Verwandten und Freunden der Familie, Fotos und Amateurfilmen arbeitet die 1982 Geborene kleinteilig heraus, wie bei ihr zu Hause mit Großvaters Trauma umgegangen wurde und wird, das lange über dessen Tod hinaus nachwirkt.

Ohne das SEEFF bekäme das Berliner Publikum „Naked Island“ wohl nie zu sehen. Denn nicht nur die Filme, auch bildende Kunst, Literatur oder Musik vom Balkan oder aus Anatolien werden in den reichen Ländern im Norden und Westen des Kontinents als niedliches, aber randständiges Thema für Regional-Enthusiasten behandelt. Dagegen wollen die Organisatoren des Berliner Festivals angehen – durch Vernetzung der Filmschaffenden aus Südosteuropa mit dem interessierten Publikum in der Mitte Europas. Vorbild ist das seit fünf Jahren bestehende „SEEFF à Paris“.

Zur Vernetzung beitragen soll im Rahmen des ersten SEEFF in Berlin eine Diskussionsveranstaltung zur im Juni anstehenden Gründung eines gemeinsamen Jugendwerks von sechs Balkanstaaten. Gastgeber ist das Deutsch-Französische Jugendwerk. Hinzu kommen ein wissenschaftliches Symposium, ein „Street Food Market“ mit südosteuropäischen Spezialitäten, ein Festivalcafé sowie eine Dauerausstellung zum Thema „Kino in Südosteuropa“ .

Alle Filme des Programms werden zum ersten Mal in Berlin gezeigt – in Originalsprache mit englischen Untertiteln. Das Festival beginnt heute um 18 Uhr im Kinosaal der Humboldt-Uni, die Ausstellung im Foyer ist ab 16 Uhr geöffnet. Die Abschlussparty mit dem großartigen Balkan-Beats-Berlin-Gründer und -DJ Robert Soko und seinem Pariser Repräsentanten Tagada im Roadrunners Paradies sollte man nicht verpassen.

Programm: http://seeff.de

taz