Ein Finanzskandal von bisher unbekannten Ausmaßen erschüttert Bosnien-Herzegowina. Hohe Politiker der in Sarajevo regierenden "Partei der Demokratischen Aktion" (SDA) sollen Millionen von Zoll- und Steuereinnahmen unterschlagen haben. Genannt werden unter anderem Haris Silajdzic - der im Westen als Liberaler gehandelte Vizepräsident des gesamtbosnischen Ministerrates - sowie Außenhandelsminister Hasan Muratovic, Föderations-Vizepräsident Ejub Ganic, der ehemalige Vize-Verteidigungsminister der Föderation, Hasan Cengic, und Ex-Innenminister Bakir Alispahic. Dies ist bekanntgeworden, während nach dem Verbleib der internationalen Hilfsgelder gesucht wird, die seit Ende des Krieges nach Bosnien geflossen sind.
Nachdem erstmalig der britische Außenminister Robin Cook im Juli öffentlich in scharfem Ton die Frage gestellt hatte, wohin all die Hilfsgelder wohl gelangt seien, hatte Präsident Alija Izetbegovic die Bildung einer parlamentarischen Untersuchungskommission angeordnet. Daß diese Kommission - völlig unüblich im bosnischen Bürokratie- und Institutionenwirrwarr - dann auch wirklich mit der Arbeit begann, ist wohl in erster Linie dem ständigen Nachfragen durch das Büro des internationalen Bosnien-Beauftragten Carlos Westendorp, kraft seines Amtes Chefkoordinator der internationalen Wiederaufbauhilfe für Bosnien, zu verdanken. Die Kommission fand heraus, daß für mindestens 12 Millionen Dollar Aufbauhilfe und weitere 10 Millionen für Hilfe im Gesundheitssektor keine Belege vorhanden sind, ebensowenig wie für bis zu 400 Millionen Dollar, die während des Krieges auf Konten der Hilfsorganisation "Dritte-Welt-Hilfs-Vereinigung" TWRA, die der bosnischen Regierung nahesteht, geflossen waren. Derzeit arbeitet der Untersuchungsausschuß daran, herauszufinden, über welche Kanäle die Gelder geflossen sind.
Ihren Höhepunkt erreichte die Affäre, als eine anonyme Quelle aus Westendorps Büro der Sarajevoer Tageszeitung Vecernje Novine steckte, Firmen im Umfeld hoher bosnischer Politiker hätten in der ersten Hälfte dieses Jahres mindestens zwanzig Millionen Mark an Steuer- und Zolleinnahmen unterschlagen. Eine mögliche Quelle für derart genaue Angaben ist das "Zoll-und-Steuer-Unterstützungs-Büro der Europäischen Kommission" (CAFAO), das nach den Cook-Äußerungen vom Juli auf Bitten des Finanzministeriums der Föderation eine Prüfung der bosnischen Staatsfinanzen eingeleitet hatte. Die CAFAO fand heraus, daß bis zu 60 Prozent der Waren, die sich auf dem bosnischen Markt befinden, niemals legal eingeführt worden sind. Eine Nachfrage Westendorps blieb unbeantwortet, bis er am 1. November mit der Aussage zitiert wurde, die größten Schwarzmarkthändler in Bosnien-Herzegowina seien wohlbekannte Politiker.
Daraufhin brach ein Sturm in allen Sarajevoer Tageszeitungen heraus. Die berühmte Oslobodjenje erschien sogar mit einer internen CAFAO-Liste von Gütern, die unter Umgehung sämtlicher Zölle und Steuern von Firmen in der Republika Srpska in die bosnisch-kroatische Föderation eingeführt worden waren.
Erst danach machten die beschuldigten serbischen und Föderations-Politiker einen Versuch, sich aus der ganzen Angelegenheit herauszureden. Das Finanzministerium der Föderation machte den "Preis für zwei Zollregelungen" - die föderale und die serbische innerhalb des nominell vereinigten Bosnien-Herzegowina - verantwortlich. Eine erste formale Antwort auf die Westendorp-Anfrage folge kurz darauf, wurde jedoch im Büro des Hohen Repräsentanten mit dem Vermerk "konfus" und "völlig unverständlich" an den Absender zurückgeschickt.
Die zweite Version der Antwort, die Westendorps Büro Ende letzter Woche erreichte, wurde dort zwar akzeptiert - allerdings mit dem ausdrücklichen Verweis von Westendorps Pressesprecher Simon Hazelock, die Prüfung werde einige Tage in Anspruch nehmen. Anschließend werde man sich wieder melden, um "über die diejenigen Fragen zu reden, die das Finanzministerium nicht beantwortet" habe. Es sei nämlich klar, daß die bisherigen Untersuchungsergebnisse "nur die Spitze des Eisberges" seien.
Die unabhängigen Medien in Sarajevo recherchieren derweil auf eigene Faust. In der unabhängigen Monatszeitschrift Dani erschien am 10. November ein Beitrag, demzufolge der Polizeipräsident Sarajevos, Ismet Dahic, bereits vor Monaten von großangelegten Schmuggelaktionen mit Partnern in der Serbischen Republik gewußt haben soll. Bisher jedoch seien diese keinem Gericht vorgelegt worden, weil "noch nicht alle Beweise" vorlägen. Und beim zuständigen Kantonsgericht hat man es nicht eilig. Kommentar eines Sarajevoer Richters, der anonym bleiben will: "Wer sich da reinmischt, verbrennt sich die Nase!"