Die Entscheidung ist unmissverständlich: Die jugoslawischen Präsidentschaftswahlen vom 24. September sind "in Teilen" ungültig. Worin diese Teile bestehen, wollte Milutin Srdic, der Vorsitzende Richter des Belgrader Bundesverfassungsgerichtes, gestern nicht sagen. Dafür machte er in einem Telefoninterview mit "Radio Freies Europa" im bulgarischen Sofia klar: "Der gesamte Wahlgang muss wiederholt werden", und folglich werde es am nächsten Wochenende auch keine Stichwahl für das Amt des Präsidenten geben. Stattdessen soll Amtsinhaber Slobodan Milosevic so lange Staatsoberhaupt bleiben, bis ein neuer Wahltermin bestimmt ist.
Der Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Opposition Serbiens DOS, Vojislav Kostunica, lehnte die Idee von Neuwahlen indes kathegorisch ab. Für die Opposition ist die Entscheidung ein Schlag ins Gesicht. Im Klartext bedeutet das Votum des Verfassungsgerichts, dass vorerst alles beim Alten bleibt. Seit dem Wahlgang am 24. September fühlten sich die 16 Parteien und Parteienbündnisse, die unter dem Namen "Demokratische Opposition Serbiens" DOS den Präsidentschaftskandidaten Vojislav Kostunica unterstützt hatten, als Sieger.
Vergessen war, dass die Wahlen überhaupt nur duch einen Verfassungsbruch zustande gekommen waren - Milosevic hatte zuerst die Zusammensetzung des Bundesparlaments zu seinen Gunsten verändert, dann die Möglichkeit einer dritten Amtszeit in für den Staatspräsidenten in die Verfassung hineinschreiben lassen und schließlich die Wahlen um ein halbes Jahr vorverlegt - wohl wissend, dass die Serben nach einem kalten Hungerwinter nicht gut auf ihn zu sprechen sein würden.
Trotzdem nahm DOS an den Wahlen teil - weshalb heute niemand aus den Reihen der Oppositionsparteien auch nur darüber sprechen möchte, dass auch das Ergebnis der Wahlen keine Aussage über den demokratischen Charakter der Abstimmungen selbst zulässt. Dass der jugoslawische Premier und Milosevic-Paladin Momir Bulatovic bereits vor den Wahlen angekündigt hatte, Milosevic werde auch bei einem Sieg seines Herausforderers turnusgemäß bis Juli nächsten Jahres im Amt bleiben, hatten die siegestrunkenen Oppositionspolitiker wohl völlig überhört. So warnte der DOS-Kandiat und Verfassungsrechtler Kostunica gestern in einem Interview mit der privaten Belgrader Nachrichtenagentur "Beta", die aktuelle Entscheidung des Verfassungsgerichtes sei "eine große Falle".
Jetzt schnappt die Falle zu. Offenbar war der Eiertanz, den Jugoslawiens Regime seit dem Wahltag hinzulegen schien, nur äußerlich. Sicher, Milosevic und Freunde haben einen Schreck gekriegt, als sie merkten, dass sie selbst eine von ihnen persönlich gefälschte Wahl nicht mehr gewinnen können. Natürlich verfehlten auch die regierungskritischen Äußerungen von Angehörigen des Offizierskorps der jugoslawischen Armee nicht ihre Wirkung. Einen Moment schien es, als krachte es diesmal vernehmlich im Gebälk der Macht.
Mit der Entscheidung des von ihm eingesetzten Verfassungsgerichts jedoch zeigt Milosevic wieder einmal, dass er ein Meister der schnellen, taktischen Bewegung ist. Denn: Jedes Verschieben einer Entscheidung bereitet der Opposition ein Problem. Die Mitgliedsparteien des DOS-Bündnisses sind sich nur in einem Punkt einig: Milosevic muss weg. Über alle anderen besteht Uneinigkeit. Zusammen mit den berüchtigten Rivalitäten zwischen den Führern der verschiedenen Oppositionsparteien ergibt dieser Mangel auf einen längeren Zeitraum gesehen eine explosive Mischung.
Noch eint die Oppositionellen ihre Begeisterung über den DOS-Wahlsieg. Doch je länger sie für diesen kämpfen müssen, umso wahrscheinlicher wird ein Auseinanderbrechen der oppositionellen Front entlang inhaltlicher Fragen. Dazu passt, dass Verfassungsrichter Srdic gegenüber "Radio Freies Europa" auch sagte, an den anstehenden Neuwahlen könnten dieselben Kandidaten teilnehmen wie an der ersten Runde - aber auch andere, neue Kandidaten dürften aufgestellt werden.
Angesichts dieses Angebots an wankelmütige Oppositionspolitiker dürfte Herausforderer Kostunica Recht haben, wenn er jetzt, nach dem Urteil des Verfassungsgerichts, vor Euphorie warnt. Den die Entscheidung bedeutet vor allem einen Zeitgewinn für das Regime, den dieses zu nutzen wissen wird. Der Polizeieinsatz gegen die streikenden Bergleute in der Mine Kolubara vor zwei Tagen und gegen die gestrige Demonstration in Belgrad liefern einen Vorgeschmack darauf, wie.
Sorgen macht der serbischen Opposition zudem, dass selbst die größten Optimisten wissen, dass eine erneute Massenmobilisierung wie 1996/97 der nach dem Kosovo-Krieg weiter verarmten und frustierten Bevölkerung nicht zuzumuten ist. Viele Anhänger von DOS haben aufgrund der katastrophalen Wirtschaftslage in Jugoslawien eigene Geschäfte gegründet. Wenn sie streiken, dann richtet sich der Arbeitskampf nicht gegen Milosevic, sondern gegen sie selbst.