Für die Bürgerinnen und Bürger so unerwartet wie für Beobachtende aus dem Ausland kam es am 4. Februar 2014 in der Industriestadt Tuzla im Nordosten Bosnien-Herzegowinas zu Massenprotesten. Anfangs forderten Arbeitende von vier insolventen Firmen [1] vor dem Gebäude der Regierung des Kantons [2] die Auszahlung ihrer nicht gezahlten Löhne – und das vor der anstehenden Schließung der Unternehmen [3]. Dann schlossen sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger dem Protest an.
Am 5. Februar versuchte die Polizei, die wachsende und immer lauter werdende Menge mit Gewalt zum Verlassen der Innenstadt zu bewegen. Das Gegenteil passierte: Am 6. Februar waren 10.000 der 120.000 Einwohnerinnen und Einwohner Tuzlas auf der Straße. Es kam zu einem Gewaltausbruch, in dessen Verlauf 130 Personen verletzt wurden, darunter 104 Polizeikräfte. Mehrere Gebäude brannten nieder, darunter die Kantonsregierung und Teile der Stadtverwaltung.
Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Proteste bereits auf andere Städte ausgeweitet. Neben Zenica, Sarajevo, Mostar und Bihac wurde in über 20 Ortschaften protestiert [4] – und das nicht nur in der "Föderation Bosnien-Herzegowina" genannten, von muslimischen Bosniaken und katholischen Kroaten dominierten "Entität" des Landes, sondern auch in der fast ausschließlich von orthodoxen Serben bewohnten "Republika Srpska".
Die "Februarproteste" gelten als erste nicht-ethnische gesamt-bosnische politische Bewegung seit Ende des Krieges 1995/96. Die Band Dubioza Kolektiv setzte ihnen mit "Vlast i policija" [5] ein musikalisches Denkmal. Berichte wie Brandon Jourdans "Bosnia and Herzegovina in Spring 2014" belegen zudem, dass alle Gesellschaftsschichten teilnahmen: Alte, Junge, Arbeitslose, Arbeitende, Angestellte, Bettelnde, Pensionierte, Studierende, Kriegsveteranen sowie ganz normale Bürgerinnen und Bürger.
Auf der politischen Ebene führten die Proteste zum Rücktritt der Regierungen von vier Kantonen. In Sarajevo legte auch der Polizeichef sein Amt nieder. Vor allem aber wurden bereits während der Demonstrationen Plena gegründet, die seitdem regelmäßig tagen. Zu Beginn wird eine Moderatorin bzw. ein Moderator gewählt; wer sprechen will, hat zwei Minuten Zeit; kein Thema wird länger als dreißig Minuten debattiert; am Ende sollte eine Abstimmung stehen. Zudem wurden Arbeitskreise gebildet, die die während der Proteste spontan gesammelten Forderungen [6] regional und themenspezifisch diskutieren und weiter formulieren. All das kann sowohl in Echtzeit als auch nachträglich via Internet verfolgt werden.
Warum begannen die Proteste gerade in Tuzla? Warum gerade Anfang Februar? Und wie geht es nun weiter? Um diese Fragen zu beantworten, luden die Heinrich-Böll-Stiftung und die Südosteuropa Gesellschaft am 7. April drei Aktivistinnen und Aktivisten aus Bosnien in den Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin ein.
Moderiert von der Korrespondentin der österreichischen Tageszeitung Der Standard in Sarajevo, Adelheid Wölfl, berichteten Emin Eminagic aus Tuzla, Zlatiborka Popov-Momcinovic aus Ost-Sarajevo und Darko Brkan aus Sarajevo knapp zwei Stunden lang einem – wie an der Anzahl der Kopfhörer für die Übersetzung klar erkennbar war - halb deutschem, halb ex-jugoslawischem Publikum aller Altersgruppen von Anfang 20 bis 70.
Emin Eminagic, studierter Anglist und Aktivist der NGO "Front Slobode" (Front der Freiheit), berichtete in akzentfreiem Deutsch zuerst über die Veränderung in Tuzla seit 1992. Damals war die Stadt eines der wichtigsten industriellen Zentren Jugoslawiens und die Einwohnerinnen und Einwohner erfreuten sich eines hohen Wohlstands.
Im alten Jugoslawien hatten die Fabriken nominell den Arbeitenden und Angestellten gehört. Dann kam der Krieg und nach dessen Ende 1995/96 die Privatisierung, bei der die Belegschaften über Werkswohnungen ausbezahlt und über Anteilsscheine an ihren Betrieben beteiligt wurden.
In den meisten Fällen blieben knapp 50 Prozent der Aktien bei den bisherigen Eigentümerinnen und Eigentümern, den Rest schrieb die staatliche Privatisierungsagentur zum Verkauf aus. Viele Firmen überlebten diese Form der Privatisierung nicht. Ein typisches Beispiel ist für Eminagic der einst renommierte Industrie- und Haushaltsreiniger-Hersteller "Dita" [7].
Bis 1992 war die Firma innerhalb der jugoslawischen Chemieindustrie ein Gigant. Doch nach 1995/96 fehlten strategische Partner auf dem neuen, viel kleineren bosnischen Markt. Zudem hatte das Unternehmen bis dahin fast keine Erfahrung mit Importwaren, mit denen seine Produkte nun konkurrieren mussten.
Obwohl Dita chronisch defizitär arbeitete, wurde die Privatisierung 2002 abgeschlossen. Die Aktienmehrheit blieb vorerst beim Kanton. Drei Jahre später kaufte sie ein Konzern namens "Lola d.d." [8] aus Sarajevo – laut Eminagic ein typisches Beispiel für den in Bosnien weiter verbreiteten "Crony capitalism" [9]: "Der Eigentümer und der Vertreter des Dita-Hauptaktionärs waren alte Schulfreunde."
Der neue Besitzer schickte die Belegschaft ab 2006 mal in bezahlten, mal in unbezahlten Urlaub. "Immer wieder gab es zwei Wochen Arbeit, dann wurden die Arbeiter wieder nach Hause geschickt." Während dieser Zeit sei die Fabrik effektiv vernichtet worden. "Arbeiter berichten, dass ihnen befohlen wurde, mehr Salz in die chemischen Mixturen zu geben, was die Maschinen zerstört hat."
2007 kaufte der Konzern Beohemia aus Belgrad, Serbien, die Reste von Dita, um daraus eine Packerei zu machen. "Aber die Arbeiter sind einfach weiter zur Arbeit gekommen. Dort sagte ihnen keiner, was los war, und oft wurden sie auch gar nicht in die Firma gelassen. Aber sie bekamen immerhin mit, dass immer wieder irgendwelche Leute kamen, die nichts mit Dita zu tun hatten."
Ende 2011 ging die Belegschaft kollektiv in den Streik. In dem auf Bosnisch vertonten Dokumentarfilm "Glas Dite" [10], den Front Slobode 2012 produzierte, bestätigt und konkretisiert die Vorsitzende des Streikkomitees, Emina Busuladžic, Eminagics Beschreibung sehr anschaulich. Dabei wird auch klar, dass der Arbeitendenprotest 2011 zum Ziel hatte, weiter arbeiten zu können. Tragischerweise gab es zu diesem Zeitpunkt gar keine Produktion mehr in der Firma.
Diese Form der "transition" - Deindustrialisierung trifft es besser - läuft in Bosnien seit knapp 20 Jahren. Warum kam es gerade jetzt zum Aufstand? Emin Eminagic sagte: "Als ich hörte, dass die Proteste vor der Kantonsverwaltung in Tuzla am 4. Februar geplant waren, gehörte ich zu den vielen zynischen Leuten, die gesagt haben: Ach, schon wieder ein Arbeiterprotest, daraus wird wieder nichts, schließlich stehen die schon seit zehn Jahren auf der Straße – niemanden kümmert es. Und dann waren dort plötzlich 3.000 Leute."
Die Mobilisierung hatte 14 Tage zuvor über Facebook begonnen. Das soziale Netzwerk wird im verarmten Bosnien, wo es fast keine Freizeitangebote gibt, sehr intensiv genutzt. Trotzdem glaubt Eminagics nicht, dass das der wichtigste Faktor der Mobilisierung war: "Ich denke, die Leute hatten vor allem genug."
Die Gewalt ging für den Front Slobode-Aktivisten klar von der Polizei aus, was die Protestierenden offensichtlich radikalisierte – und zudem dazu führte, dass sich "jüngere Polizeikräfte den Demonstranten anschließend wollten, während die Älteren sagten, nein, wir müssen die Institutionen schützen."
Die Bedeutung der Februarproteste liegt für Eminagic darin, dass damit erstmalig belegt wurde, dass Politik in Bosnien und Herzegowina nicht nur entlang ethnischer Linien möglich ist. "Seit über 20 Jahren reden wir wieder über soziale Fragen."
Zlatiborka Popov-Momcinovic, Politikwissenschaftlerin an der Universität Ost-Sarajevo/Republika Srpska, bestätigt diese Einschätzung. Überhaupt sei einer der beiden einzigen Unterschiede zwischen der Föderation und der Republika Srpska, "dass wir zentralistisch organisiert sind, während die Föderation aus 12 Kanton mit großer Autonomie besteht. Deshalb werden Regierungsbeschlüsse hier schneller umgesetzt."
Der zweite Unterschied sei, dass sich das Regime von Präsident Milorad Dodik immer mehr hin zu einer Diktatur entwickle. In der Republika Srpska bestehe "ein Klima der Angst, eine verdeckte Repression, ein sanfter Despotismus." Umso erstaunlicher sei, dass alle Umfragen zeigen, dass 80 Prozent der Bevölkerung die Proteste in der Föderation unterstützen.
Das sei auch angesichts der ansonsten politisch "eingeschläferten" bosnischen Gesellschaft bemerkenswert. Die seit Kriegsende geltende Dayton-Verfassung beruhe auf der Macht der drei Nationen in Bosnien – und nur in zweiter Linie auf der des Volkes. "Man kann die Proteste auch so lesen, dass sich hier die Bürger melden, die ihre Rechte als solche einfordern – nicht als Angehörige einer Ethnie", so Popov-Momcinovic.
An den Protesten in der Republika Srpska-Hauptstadt Banja Luka hätten vor allem Mitglieder von NGOs teilgenommen. Hinzu kamen Persönlichkeiten, die für ihre kritische Haltung bekannt sind, aber auch "normale Bürgerinnen und Bürger – und, was besonders interessant ist, Angehörige des Veteranenverbandes, die die Führung ihrer Vereinigung stürzen wollen." Unterrepräsentiert seien Studierende gewesen.
Darko Brkan von der Sarajevoer NGO "Zašto ne – Why not?", die sich um die Vertiefung der jungen Demokratie Bosniens bemüht, berichtete über die zahlreichen falschen Protest-Berichte in den großen, etablierten Medien Bosniens. Diese hätten auch falsche Informationen verbreitet, wie die über die Zerstörung des historischen Archivs Bosnien und Herzegowinas. Dort war zwar die Tür beschädigt worden, weil Feuer von einem anderen Gebäudeteil übergegriffen sei. Das Archiv selbst aber blieb unversehrt.
Jetzt muss für Brkan darüber gesprochen werden, was in der Zukunft passieren soll. "Die Proteste waren sehr ad hoc, dementsprechend konnten die Forderungen in den verschiedenen Städten nicht koordiniert sein." Zudem habe die Bewegung seit den Protesten strategische Fehler gemacht. Die regelmäßigen Plena in hoher Intensität fortzusetzen sei für viele Bürger zu anstrengend und haben dazu geführt, dass das öffentliche Interesse nachgelassen hat und die Zahl der Teilnehmenden gesunken sei.
Trotzdem bestehe die Chance für eine "Rückkehr der politischen Sphäre" in Bosnien weiter: "Die Parteien können diese Situation nur sehr schwer überleben. Wenn morgen Wahlen wären, würden sehr wenige Bosnier teilnehmen. Um das zu ändern, reichen keine neuen Versprechen – es braucht neue Leute, die das politische System komplett transformieren."
Die Zivilgesellschaft - also NGOs, Initiativen, Protest-Plena usw. - sollte für Brkan gemeinsam an dieser Reform arbeiten. "Das heißt auch, dass die Akteure in den Plena aktiv bleiben müssen. Im Oktober sind Präsidentschaftswahlen. Dann wird sich zeigen, was von der Februarbewegung übrig geblieben ist."
Emin Eminagic konterte diese These mit einer Anekdote: "Im letzten Plenum in Tuzla wurde der Vorschlag gemacht, einen Kandidaten zur Abgeordnetenwahl im Kanton Tuzla aufzustellen. Doch die Leute haben schnell begriffen, dass das ein Versuch war, sie zu befrieden." Anstatt selbst eine Partei zu werden wurde beschlossen, das Plenum weiter zu führen.
Dafür spricht für Eminagic auch, dass seit den durch die Proteste erzwungenen Rücktritten weitere Erfolge geglückt seien. "Die Abgeordneten im Kanton Tuzla erhalten jetzt nicht mehr ein ganzes Jahr nach Ende ihres Mandats Diäten und Rentenzahlungen. Das ist nicht viel - aber es zeigt, dass wir einen gewissen Spielraum haben."
Zlatiborka Popov-Momcinovic erklärte, wie bedeutend die Reform der Parteien ist: "Der bosnische Alltag ist Terror, ein einziges Suchen nach dem Notwenigsten." Fast 40 Prozent der Erwerbstätigen haben offiziell keine Arbeit, bei den unter 25-Jährigen sind es mehr als die Hälfte. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei ca. 3.500 Euro - pro Jahr, die Preise wenig unter deutschem Niveau. Gut ein Viertel der Einwohner leben unter der Armutsgrenze.
Popov-Momcinovic berichtet, dass es ca. 90 Milliardärinnen und Milliardäre im Land gäbe - "aber jeder weiß, wie die an ihren Reichtum gekommen sind: über politische Kontakte, die sie während des Krieges aufgebaut und seitdem befestigt haben. Der bosnische Kapitalist ist nicht produktiv, er wirtschaftet wie ein Rentier in einem Feudalsystem." Daher gäbe es keine funktionierende Privatwirtschaft.
"Deshalb ist für die meisten Bosnier heute die größte denkbare wirtschaftliche Perspektive ein Arbeitsplatz in einer großen staatlichen Firma oder in der Verwaltung. Überall bestehen Netzwerke, die vorgeben, vielleicht irgendwann irgendwo einen solchen Platz finden zu können. Deshalb treten die Leute in bestimmte politische Parteien ein: Sie nehmen an, dass sie damit Zugang zu Ressourcen erhalten. Sie werden gekauft."
Angesichts dessen sei die Tatsache, dass die Proteste überhaupt stattgefunden haben, wichtiger als deren Resultate. "Was hat die Occupy-Bewegung gebracht? Sie hat gezeigt, dass es Bürgersinn und Bürgerprotest gibt." Dass sich das auch in Bosnien gezeigt habe, sei angesichts der seit über 20 Jahren herrschenden katastrophalen Situation viel.
Für Darko Brkan haben die Parteien seit Februar zwei Ängste: "Erstens, dass jemand kommt und sie aus dem Fenster wirft. Und zweitens, dass ihnen jemand die Macht nimmt. Beide Ängste sind sehr gerechtfertigt, Proteste wie die im Februar können sich jederzeit wiederholen - und angesichts der Gewalt, die dabei mittlerweile zum Ausbruch kommt, muss man mit allem rechnen."
Deshalb würden die Personen, die wegen ihrer Teilnahme an den Protesten im Gefängnis sitzen, auch so unter Druck gesetzt. "Zurzeit warten acht Leute auf ihre Anklage - wegen Terrorismus. Die Mindeststrafe dafür ist fünf Jahre Gefängnis." Wenn irgendwer tatsächlich dazu verurteilt werde, müsste sich zeigen, wie stark die Protestbewegung tatsächlich ist: "Diese Anklage hätten jeden von uns treffen können."
Auf Adelheid Wölfls Frage zur Rolle der internationalen Gemeinschaft in Post-Protest-Bosnien berichtete Emin Eminagic, der Hohe Repräsentant Valentin Inzko habe am 9. Februar die Proteste im Fernsehen kommentierte - "und alle Lügen der Medien wiederholt." Eminagic fügte hinzu, Inzko habe mitgeteilt, die EUFOR stünde bereit, um die Situation gegebenenfalls unter Kontrolle zu kriegen und dass es den österreichischen Bürgerinnen, Bürgern und Firmen in Bosnien gut ginge. "Als ob uns Bosnier das irgendwie interessieren würde."
Zlatiborka Popov-Momcinovic wies darauf hin, dass bei den bosnischen Protesten – im Gegensatz zu denen in der Ukraine – keine Europa-Fahnen zu sehen gewesen sind. Im Gegenteil sei viel Euroskeptizismus spürbar gewesen und viele Transparente hätten den Sozialismus zurückgefordert.
"Die meisten Aktivisten lehnen jede Einmischung seitens der internationalen Gemeinschaft ab und die Plena haben klar signalisiert, dass sie es für nötig halten, dass es Zeit ist, dass die Bürger ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen."
[1] "Dita", "Polihem", "Poliochem" und "Konjuh"; mehr dazu weiter unten
[2] Als "Kanton" werden weitgehend autonomen Verwaltungsbezirke in der Föderation Bosnien und Herzegowina genannt; mehr dazu weiter unten
[3] Betroffen sind etwa 10.000 Arbeitnehmer, von denen die meisten seit 54 Monate kein Gehalt mehr erhalten haben
[4] Neben Tuzla, Zenica, Mostar, Sarajevo und Banja Luka waren laut der Tageszeitung "Dnevni Avaz": in Brcko Jajce, Bihac, Doboj, Prijedor, Travnik, Bugojno, Donji Vakuf, Kakanj, Visoko, Gracanica, Sanski Most, Cazin, Živinice, Goražde, Orašje, Srebrenik, Bijeljina, Prozor-Rama i Tešanj
[5] Regierung und Polizei
[6] vgl. Website des Plenums Tuzla: www.plenumtk.org, zuletzt besucht 17. April 2014
[7] Industrija Deterdženta Tuzle, Waschmittelfabrik Tuzla
[8] "dionicko društvo", "Aktiengesellschaft"
[9] Nepotismus
[10] "Die Stimme Ditas", zuletzt besucht am 17. April 2014