Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Singen für den Kriegsverbrecher

Singen für den KriegsverbrecherAn allen Fronten kämpft der Regisseur Emir Kusturica für Großserbien – jetzt kam es beim Filmfestival von Antalya zum Eklat | Von Rüdiger Rossig und Boris Žujko

Den Mann mit dem strähnigen, schwarz-grauen Haar vorn auf der Bühne kennen alle im Saal. Trotzdem wird er extra vorgestellt: "On guitar", brüllt der Sänger ins Mikrofon, "Mister Emir Kusturica!" Das Publikum johlt begeistert, lange und laut. Dann erschallt der Ruf: "Ne damo" – "Wir geben nicht..." Die tobende Masse brüllt gemeinsam mit der Band: "Kosovo!"

Ob in Berlin oder Buenos Aires – das Ritual ist jedes Mal dasselbe bei den Konzerten der serbischen Rockgruppe Emir Kusturica and the No Smoking Orkestra. Emir Kusturica hat massiv an der Popularisierung der Truppe, die einmal als Punkband anfing, mitgewirkt. Er stockte sie durch Profimusiker auf, widmete ihr den Dokumentarfilm Super 8 Stories, warb mit seinem Namen. Heute spielen Emir Kusturica and the No Smoking Orkestra vor Zehntausenden Menschen in Europa, Russland, Nord- und Südamerika. Und kämpfen von der Bühne aus gegen ein unabhängiges Kosovo – und für Großserbien.

Im ehemaligen Jugoslawien ist Kusturicas nationalistisches Engagement bekannt. In Europa oder den USA dagegen steht sein Name vor allem für Filme wie Arizona Dream, eine Satire auf den amerikanischen Traum mit Johnny Depp; seinen Dokumentarfilm über den Fußballstar Diego Maradona; oder für Melodramen und Burlesken wie Zeit der Zigeuner (1986) und Schwarze Katze, weißer Kater (1998). Wenn der Regisseur und zweimalige Gewinner der Goldenen Palme von Cannes im Westen überhaupt politisch verortet wird, dann im alternativen Multikulti-Spektrum.

Nur hin und wieder dringt an die Öffentlichkeit, wes Geistes Kind Emir Kusturica ist. Etwa kürzlich beim Filmfestival von Antalya, wo Kusturica als Jurymitglied zu Gast war. Nachdem ihm Protestierende vorwarfen, dass er während des Bürgerkrieges nicht gegen die "ethnischen Säuberungen" und gegen die Morde an muslimischen Bosnjaken protestiert habe, reiste Kusturica ab. Nicht ohne vorher den türkischen Minister für Kultur und Tourismus, der Druck auf die Organisatoren ausgeübt hatte, zu seinem "Feind" zu erklären. Da hatte der türkische Regisseur Semih Kaplanoglu, Berlinale-Gewinner mit seinem Film Bal, seinen Festivalbesuch aus Protest gegen Kusturicas Anwesenheit bereits abgesagt.

Inzwischen muss man sich fragen, weshalb Kusturica überhaupt noch zu Festivals eingeladen wird. Seine politischen Ansichten hält er keineswegs geheim. Der No-Smoking-Orkestra-Song Wanted Man etwa ist einem "Rašo Dabic" gewidmet. Unter diesem Decknamen lebte der Kriegsverbrecher Radovan Karadžic über zehn Jahre lang in Serbien – während er weltweit vom UN-Kriegsverbrechertribunal gesucht wurde. "Wer Rašo Dabic nicht liebt, der kann uns mal", singen Kusturica und seine Band in Reimform. Auf die Frage nach seiner Karadžic-Affinität antwortet Kusturica dem kroatischen Magazin Globus: "Ich bin immer auf der Seite der Verfolgten."

Es mag absurd anmuten, einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher zum Verfolgten und Outlaw zu stilisieren. Doch genau diese manchmal direkte, manchmal indirekte Rechtfertigungsstrategie durchzieht auch Kusturicas Filme. Deren Helden sind durchaus liebenswert – aber sie haben einen Hang zur Unberechenbarkeit, der auch mal zu Mord und Totschlag führen kann. Dieses regionale Kriegs-Gen machte Kusturica nicht nur in seinen Balkankriegsfilmen Underground (1995) und Das Leben ist ein Wunder (2004) zum Grund für den Zerfall Jugoslawiens. In Underground ist es zudem der großdeutsche Imperialismus, der die Völker Jugoslawiens entzweit, in die Verräter einerseits und die Standhaften andererseits. Und natürlich gibt es für Kusturica keinen Zweifel darüber, wer die Verräter sind: Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1941 wird von der Bevölkerung von Slowenien und Kroatien bejubelt. Die Straßen von Belgrad hingegen sind menschenleer.

Millionen Flüchtlinge, 150.000 Tote, doch bei Kusturica können die Serben nichts dafür, dass sie Krieg führen. Sie sind halt nun mal so. "Und vor allem sollen sie rein serbisch sein. Das Konzept Multikulturalismus funktioniert nicht", sagt Kusturica, "meine Familie ist ein symptomatisches Beispiel dafür."

Was lief falsch bei den Kusturicas? Vater Murat wurde in eine Familie hineingeboren, die während der Herrschaft der türkischen Osmanen über Bosnien (1481 bis 1878) zum Islam konvertiert war. Er bekannte sich zum Atheismus. Mutter Senka kam aus serbisch-orthodoxem Hause. Gläubig war die Gerichtssekretärin nicht. Das war nicht ungewöhnlich im Jugoslawien der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre. Solange der sozialistische Staat seinen Bürgern Jahr für Jahr einen höheren Lebensstandard bescherte, spielten Religion und Nationalität eine immer geringere Rolle. "Gemischte" Ehen waren Normalität. Die "Dysfunktionalität" der Familie Kusturica bestand für den Sohn vermutlich gerade in deren selbstverständlicher Nichtreligiosität.

Kusturica wählte den radikal anderen Weg. Als international anerkannter Regisseur wurde er zunächst zum transjugoslawischen Idol. In seiner kroatisch-muslimisch-serbisch gemischten Heimatstadt Sarajevo war "Kusta" ein gefeierter Bürger. Umso schockierter reagierten die Sarajevoer, als der Filmemacher seiner Stadt 1992 die Solidarität verweigerte. Als dort die ersten Barrikaden des Bosnienkrieges gebaut wurden, verließ Kusturica seinen zweiten Wohnsitz Paris – und flog nach Belgrad.

In der Hauptstadt Serbiens machte er auf Miloševics Regime-Fernsehsender RTS seine Sicht der bosnischen Tragödie öffentlich: Bosniens Muslime seien nicht wirklich für eine multikulturelle Gesellschaft. Nicht die Serben, sondern die Muslime hätten sich als Erste mit Waffen versorgt. Zudem vergäßen alle, die die Serben für das blutige Ende Jugoslawiens verantwortlich machten, die Leiden dieses Volkes im Zweiten Weltkrieg.

Die Belagerung der bosnischen Städte, die Vertreibung und Ermordung der Muslime: eine Reaktion auf über vier Jahrzehnte zuvor erlittenes serbisches Leid? Kusturicas Ansichten ähneln nicht nur an dieser Stelle denen Miloševic-Serbiens in den neunziger Jahren – für die heute die serbische extreme Rechte einsteht. Zudem teilt er die Ansicht der serbischen Nationalisten, dass der Westen und besonders die EU zutiefst antiserbisch seien: "Wenn es nach Europa ginge", sagt er, "dann wären 99 Prozent dafür, dass alle Serben nach Russland ausgesiedelt werden."

Serbe zu sein ist für Nemanja Kusturica – wie Emir seit seiner orthodoxen Taufe 2005 heißt – zentraler Bestandteil seines Selbstverständnisses. Ungeachtet des erklärten Atheismus seiner Eltern ist er sicher: "Die Kusturicas waren 250 Jahre lang Muslime – aber nur, um die Osmanen zu überleben." Er habe diesem "sich zum Türken machen" (Balkan-Slawisch "poturciti se") seiner Familie nun ein Ende gemacht – und sie nun in die orthodoxe Kirche heimgeführt.

Der klare Bruch mit den "Sünden" der Vorfahren findet Beifall: Am 21. Januar dieses Jahres verlieh der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill, Emir beziehungsweise Nemanja Kusturica in Moskau den Jahrespreis des Internationalen Fonds der orthodoxen Völker – für seine "herausragende Tätigkeit zur Festigung der Einheit Orthodoxie". Dazu gehört auch Kusturicas aktiver Einsatz gegen die Unabhängigkeit des Kosovos. Und so war Kusturica im Februar 2008 einer der Hauptredner auf einer Massendemonstration in Belgrad.

Auf dem Platz der Republik im Zentrum der Stadt brüllte er den Zehntausenden versammelten Ewiggestrigen und nationalistischen Ultras durch eine Wand von Mikrofonen zu: "Zu welchem Mythos gehören wir? Zum Kosovo-Mythos!" Wenn die Masse nach solchen Worten minutenlang im kollektiven Rausch "Emire – Srbine!" ("Emir – Serbe!") skandiert, wenn Tausende Teilnehmer nach der Demonstration westliche Botschaften mit Brandsätzen und Steinen angreifen, dann wird klar, warum so viele Menschen im wirtschaftlich desolaten Serbien immer noch auf den Nationalismus hereinfallen. Und welche Rolle Prominente wie Kusturica dabei spielen.

Nicht nur wenn ihn weltberühmte Freunde wie Johnny Depp oder Maradona besuchen, ist Emir Kusturica Dauerthema in den serbischen Medien. Er ist ein Vorbild. Was er sagt, wird gehört, diskutiert, ernst genommen. Und diese Rolle nutzt der Regisseur und Musiker, um seine nationalistischen Ansichten zu verbreiten. Zum Beispiel, indem er den russischen Maler Andrej Budajew fördert und sich in Ausstellungskatalogen gemeinsam mit ihm ablichten lässt. Auf dessen Bildern wird Kusturicas großserbisches Weltbild schlagend sichtbar: Da steht Ex-Serbenführer Karadžic mit traurigem Blick und mit Handschellen gefesselten Händen – ein Held, der sich für die Orthodoxie opfert. Ebenso gut weg kommen Miloševic und der nach wie vor vom Kriegsverbrechertribunal gesuchte Ex-Militärchef der bosnischen Serben, Ratko Mladic. Deren Feinde sind westliche Politiker wie Madeleine Albright, George und George W. Bush und oder Javier Solana – eine auf Budajews Bildern in Naziuniformen und blutige Metzgerkittel gekleidete Bande, die nur ein Ziel kennt: Serbien zu zerteilen.

Budajews Werke kann man in Kusturicas Ethno-Dorf Drvengrad ("Holzstadt") bestaunen. Der Regisseur hat die Siedlung im Westen Serbiens für die Dreharbeiten zu Das Leben ist ein Wunder bauen lassen. Schon seit den Zeiten Miloševics war Kusturica Direktor des sein Dorf umgebenden Nationalparks Mokra Gora ("Nasse Höhe"). Kusturica ist der einzige Arbeitgeber in der Umgebung. Mittlerweile lebt er die meiste Zeit in dem im Volksmund "Kustendorf" genannten Ort. Er betreibt eine Filmschule, alljährlich findet – unter Schirmherrschaft des serbischen Kulturministeriums – das International Kustendorf Film Festival statt.

"Ich habe hier einen Lebensraum aus dem Mittelalter erstehen lassen", sagt Kusturica dem Fernsehsender Arte, "eine Art Zitadelle, hinter deren Mauern die Menschen Zuflucht finden. Denn ich glaube, man muss sich heute in Enklaven vor der drohenden Katastrophe schützen." Vor welcher Katastrophe? Tatsächlich erinnert Drvengrad eher an einen Vergnügungspark. So empfinden es auch die Busladungen von Schulkindern, die täglich aus allen Teilen Serbiens nach Kustendorf gekarrt werden.

Dort wird ihnen im lokalen Kino, einer – serbisch-orthodoxen – Holzkirche, den – serbischen – Restaurants, Geschäften und Ständen mit – serbischen – Waren auf lockere Weise das Weltbild der serbischen extremen Rechten nähergebracht. Dazu läuft die aus Kusturicas Ethno-Filmen und vom No Smoking Orkestra bekannte "Zigeunermusik". Im Gegensatz zu ihren ungarischen oder rumänischen Pendants sind die serbischen Ultrarechten keine Antiziganisten. Roma dürfen bei ihnen durchaus mitmachen – sofern sie dem serbischen Zigeuner-Stereotyp entsprechen. Also: orthodox und Musiker sind.

Als Schüler, Studenten, Lehrer, kurz: normale Angehörige der Gesellschaft dagegen haben "cigani" bei den serbischen Nationalisten so wenig zu melden wie in Kusturicas Filmen. Das widerspräche wohl ihrer Natur, über die der Regisseur im Interview dem deutschen Magazin Novo sagt: "Zigeuner überleben wie Insekten, nach dem Prinzip der Selektion aufgrund von Farb- und Formschönheit ihrer Flügel."

Ist das Rassismus? Fragen wie diese schätzt Kusturica nicht. Sein ruppiger Umgang mit Kritikern ist berüchtigt. Im Herbst vergangenen Jahres ließ er ein kroatisches TV-Team aus Kustendorf hinauswerfen. Die Journalisten hatten auf einer Aussage zum Verhältnis zu Miloševic beharrt.

Hatte Kusturica nicht der New York Times einmal einen denkwürdigen Satz gesagt? "Ich halte nichts von Demokratie. Wenn ich schon eine eigene Stadt habe, dann kann ich mir auch die Bürger aussuchen."

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