Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Umgeben von Feinden - Debatte

Ein deutscher Historiker bringt die serbische Öffentlichkeit in Aufwallung: Holm Sundhaussen ist etwas gelungen, wovon andere Historiker träumen: seine "Geschichte Serbiens. 19. bis 21. Jahrhundert" hat eine gesellschaftliche Debatte ausgelöst. Und das nicht etwa in Deutschland | Debatte von Rüdiger Rossig

Die Gesamtdarstellung der Entwicklung des modernen serbischen Staates von Sundhaussen, Professor für südosteuropäische Geschichte am Osteuropa-Institut der FU Berlin, wird hierzulande fast ausschließlich von Fachleuten diskutiert. In Serbien dagegen veröffentlichte die renommierte Tageszeitung Danas (Heute) vorab eine Serie von Auszügen aus der serbischen Übersetzung.

Die zahlreichen Reaktionen auf den Text zeigen, dass große Teile der Öffentlichkeit und auch viele Historiker in dem exjugoslawischen Staat meinen, dass ein Fremder Serbien einfach nicht verstehen kann. Und ein Deutscher schon gar nicht. Symptomatisch ist beispielsweise die Internetzuschrift eines Lesers: "Im Ersten und im Zweiten Weltkrieg waren wir Gegner. Und im Kosovo wart ihr wieder zur Stelle."

Einem gestandenen Historiker zu unterstellen, er könne aufgrund seiner Abstammung die Geschichte eines Landes nicht beurteilen, das ist tatsächlich "eine merkwürdige Argumentation zu Beginn des 21. Jahrhunderts", wie Sundhaussen im Interview mit dem Magazin Vreme (Zeit) sagt. Vor allem, wenn man weiß, dass die Leserschaft von Danas keineswegs zur bildungsfernen Schicht Serbiens gehört, sondern im Gegenteil zu dem Spektrum, das man gemeinhin als Zivilgesellschaft bezeichnet.

Worüber also ist das gebildete serbische Bürgertum so empört? 1989, das Jahr, in dem sich Slobodan Milosevic an die Spitze der KP Serbiens putschte, hat das Land im Gegensatz zu (fast) allen anderen kommunistischen Einparteien-Systemen Europas nicht etwa den Anfang vom Ende der Diktatur erlebt, sondern nur als deren Transformation.

In seinem Buch "The Culture of Power in Serbia" beschreibt der US-Balkanspezialist Eric Gordy anschaulich, wie das "Milosevic-Regime" - eine höchst unheilige Koalition aus kommunistischen Funktionären, nationalistischen Ewiggestrigen und gewöhnlichen Kriminellen - Serbien veränderte.

Im Zentrum stand die Zerstörung jeglicher Alternativen zur bestehenden Ordnung. Demokraten, Pazifisten, Menschenrechtsgruppen, moderne Kunst, kritische Filme und Literatur, Comics, Rockmusik: Alles, was nicht ins nationalistische Weltbild passte, wurde aus der serbischen Öffentlichkeit verdrängt. Stattdessen gab es Ethno-Chauvinismus, Macho-Kult und Turbo-Folk, eine mit Techno vermischte Form von Volksmusik, die den Sound Serbiens bis heute prägt.

Nicht etwa der große Führer Slobodan Milosevic, sondern das sein Regime tragende politische, wirtschaftliche und kulturelle Umfeld hat den Zerfall Jugoslawiens, vier Kriege mit rund 150.000 Toten und unzählige katastrophale Wirtschaftskrisen verursacht.

Die Kultur der Macht, die sich in den Milosevic-Jahren entwickelte, hat Serbien nicht nur Massenarmut beschert, sondern auch einen ungeheuren intellektuellen Provinzialismus.

Heute beherrschen selbst viele Hochschullehrer und Forscher in Serbien keine Fremdsprachen. Neue Methoden und Forschungsansätze wurden kaum beachtet. Und dafür, dass sich an dieser Situation nichts ändert, sorgen der anhaltende Brain-Drain (nach wie vor verlässt die Mehrheit der Hochschulabsolventen das Land direkt nach dem Abschluss) und die katastrophale Lage der Schulen, Hochschulen, Archive, Bibliotheken und anderer Bildungseinrichtungen.

Dabei ist vielen Mitgliedern der serbischen intellektuellen Elite durchaus bewusst, dass die aggressive Politik ihres Staates in den 1990er-Jahren zur Zerstörung Jugoslawiens, den Kriegen in Slowenien, Kroatien, Bosnien und Kosovo und letztendlich der Niederlage Serbiens geführt haben. Aber auch gebildete Serben haben - angeleitet von Historikern, die sammeln und verbreiten, was die jeweils Mächtigen wollen - nur zu gut gelernt, Geschichte immer einzig aus der Perspektive des eigenen - guten - nationalen Kollektivs zu sehen.

Deshalb konnte einzig der gläubige Nationalist Vojislav Kostunica 2000 den Sturz Milosevic bewerkstelligen und sich bis heute politisch halten: Das "brain mappping" der serbischen Wähler trennt die Welt bis heute zwischen "nas", also "uns", und der "uns" umgebenden Welt von Feinden. Die meisten Serben sehen ihren Staat als Opfer, nicht als Täter beim Zerfall Jugoslawiens. Und Holm Sundhaussen weiß das.

Blockade der Wahrnehmung

Der 1942 geborene Historiker diagnostiziert dem heutigen Serbien eine "Blockade der Wahrnehmung", die er aus eigenem, deutschem Erleben kennt. Die Politik, die die serbischen Regierungen in den vergangenen zwanzig Jahren gemacht haben, hat die Menschen im Land zu Gefangenen ihrer Geschichtsmythen gemacht - ähnlich, wie das die Nationalsozialisten mit den Deutschen getan haben.

Aber in Serbien gab es weder eine Entnazifizierung noch eine Umerziehung - und schon gar kein Wirtschaftswunder. Dafür sitzen nach wie vor viele Leute in hohen und höchsten Positionen, die direkt mit dem Milosevic-Regime verbunden waren. Das Land ist einer der ärmsten Staaten Europas. Die Menschen sind frustriert. Deshalb empfinden sie jeden Versuch einer kritischen Aufarbeitung der Geschichte ihres Staates als Angriff auf ihre ganz persönliche Identität.

Holm Sundhaussen hat recht, wenn er zu bedenken gibt: "In Deutschland hat es ein Vierteljahrhundert gedauert, bis die Mehrheit der Gesellschaft begriffen hat, was zur Zeit des Nationalsozialismus geschehen ist." Die Debatte um das "Zentrum gegen Vertreibungen" dürfte eine der letzten Nachwehen des Zweiten Weltkrieges sein - über 62 Jahre nach dessen Ende.

Serbien wird mehr Diskussionen wie die um das Buch des Berliner Historikers brauchen, um wieder Anschluss an die Gegenwart zu finden. Zum Beispiel eine echte Aufarbeitung der vergangenen zwei Jahrzehnte. Und ein Wirtschaftswunder.