Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Serum gegen den nationalen Mythos

Von Rüdiger Rossig

Holm Sundhaussens "Geschichte Serbiens" ist die erste Gesamtdarstellung der Entwicklung des modernen serbischen Staates in deutscher Sprache. Und sie ist mehr als brauchbar. Indem der Berliner Historiker politische, wirtschaftliche und soziale Aspekte immer wieder mit den in Serbien bis heute wirkungsmächtigen nationalen Mythen konfrontiert und genau berichtet, wie das patriotische Geschichtsbild Serbiens geschaffen wurde, gelingt ihm genau die "Dekonstruktion jener Vergangenheitsbilder, die so viel Verwirrung und Unheil gestiftet haben", die er am Ende seines Werks fordert.

Sundhaussens Buch lebt von der Vielzahl der Quellen und der Tiefe der Beschreibungen. Methodisch überzeugt die immer wiederkehrende Gegenüberstellung dessen, was belegt ist, mit den nationalen Mythen und der offiziellen serbischen Geschichtsschreibung im Fürstentum Serbien, im Königreich, im ersten und im zweiten, sozialistischen Jugoslawien, im Staate Milosevic' und danach. Hinzu kommen zahlreiche Abschnitte, die die Entwicklung von Wirtschaft, Verwaltung, Militär, Alphabetisierung, Schul- und Hochschulwesen oder Geschlechterverhältnisse in den entsprechenden Perioden anschaulich erläutern.

Einerseits erzählt der Historiker durchaus konventionell, wie sich ein Teil des Osmanischen Reichs seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu dem Staat entwickelte, der heute Serbien heißt. Dabei findet er jedoch immer den Weg von der Geschichte der Herrscher, Militärs, Intellektuellen und Kleriker zur Geschichte der Bürger, Handwerker und Bauern.

Sundhaussens Art, Geschichtswissenschaft zu betreiben, ist ein Serum gegen das nationalistische Gift: das genaue Gegenteil der patriotischen Form der Geschichtsschreibung, die die Menschen auf dem Balkan in den vergangenen 30 Jahren von einer Katastrophe in die nächste gestürzt hat.

Sundhaussen beschreibt eindringlich, wer die Gründer des serbischen Staates waren und wozu ihnen Mythen wie der von der serbischen Urheimat Kosovo dienten. Er berichtet durchaus sympathisierend, wie junge, von Aufklärung oder Romantik begeisterte Balkan-Intellektuelle aus den slawischsprachigen Untertanen des Sultans Serben machten, wer mit welchen Zielen die Schulen, Straßen, Städte Serbiens bauen ließ. Und auch beim Absturz eines Teils des durchaus wohlhabenden Schwellenlandes Jugoslawien auf das heutige Entwicklungslandniveau Serbiens benennt Sundhaussen klar Ross und Reiter.

Nicht nur Politiker, allen voran Slobodan Milosevic, sondern auch die Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler, die das großserbische Projekt schon in den Achtzigerjahren intellektuell vorbereitet und verbreitet haben, werden anhand zahlreicher Beispiele vorgestellt. Damit zeigt Sundhaussen nicht nur, in welch desaströsem Zustand sich die serbischen Eliten bis heute befinden. Er macht auch klar, dass die katastrophale Lage, in der der von ihnen verwaltete Staat heute steckt, nicht von irgendeinem nationalen Schicksal diktiert, sondern gemacht wurde.

Sundhaussen ist sich sicher, dass Serbien heute ein ganz anderes Land wäre, wenn sich seine Eliten nicht im 20. Jahrhundert immer wieder für die Aggression entschieden hätten, statt die Zusammenarbeit zu suchen. Wenn der langjährige Balkankenner von Ansätzen zu einem demokratischen, rechtsstaatlichen und wohlhabenden serbischen Staat und seinen zukünftigen Trägern in der kleinen serbischen Zivilgesellschaft berichtet, kommt der Balkanliebhaber zum Vorschein: Ein Wissenschaftler, der die schwierige Balance zwischen nötiger Distanz und ebenso nötiger emotionaler Beziehung zu seinem Lebensthema zu meistern weiß.

Holm Sundhaussen: "Geschichte Serbiens. 19.-21. Jahrhundert". Böhlau Verlag, Wien 2007, 514 Seiten, 59 Euro