Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Jugoslawien - der Minenhund Europas

Jugoslawien hat 70 Jahre Erfahrung im Umgang mit Nationalitäten und Minderheiten. Europa kann daraus lernen – wenn die Europäer einsehen, wie jugoslawisch ihre Probleme sind | Von Rüdiger Rossig

Die Jugoslawienkriege der 90er Jahre wurden und werden im Westen Europas als Anachronismen wahrgenommen: Was die durchmachen, haben wir schon hinter uns, meinen die Westeuropäer. Der Journalist Norbert Mappes-Niediek, der sich seit 1990 auf Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten spezialisiert hat, ist anderer Ansicht. Er hält die Konflikte, die den Balkanstaat zerstört haben, für hochmodern.

Sein neues Buch "Die Ethno-Falle" beginnt mit der These, die Einigung Westeuropas zur EU und der Zerfall Jugoslawiens seien zwei Seiten derselben Medaille. Der Maastricht-Vertrag war für den Osten und Südosten des Kontinents ein klares Signal: Jetzt müssen wir uns von den Resten des Kommunismus befreien und so verändern, dass wir in der EU mitmachen können.

In homogenen Nationalstaaten wie Polen, Ungarn oder Bulgarien führte diese Erkenntnis zu einer kollektiven Anstrengung, Vielvölkerstaaten mit großen regionalen Entwicklungsunterschieden wie die Tschechoslowakei oder Jugoslawien wurden dagegen von der Anziehungskraft des neuen, starken Magneten zerrissen.

Nicht obwohl, sondern weil Europa zusammenwuchs, fiel Jugoslawien auseinander, meint Mappes-Niediek. Dabei unterschlägt er nicht, dass der Balkanstaat lange vor der Gründung der EU seine eigenen Probleme hatte. Dreh- und Angelpunkt war dabei das starke Gefälle vom industrialisierten Slowenien bis zum agrarischen Armenhaus Kosovo. Anfang der Neunziger beschlossen die Eliten im reichen Norden, sich von den südlichen Teilrepubliken zu trennen und ohne den Ballast aus Armut und Unterentwicklung in Richtung EU zu steuern. Dass Slowenien und Kroatien ihren Schritt ethnisch, kulturell und religiös begründeten, war der vorherigen Entwicklung Jugoslawiens zum Ethno-Staat geschuldet.

Im sozialistischen Jugoslawien ersetzten die Rechte der Völker individuelle Bürgerrechte. Wer Bürgermeister, Theaterdirektor oder Universitätsprofessor werden wollte, musste nicht etwa Belege für seine fachliche Eignung vorlegen. Vielmehr musste der Kandidat glaubwürdig machen können, dass er eine der zahlreichen Völkerschaften vertrat. Gab es auf dieser Ebene Auseinandersetzungen, so traten Präsident Josip Broz, genannt Tito, und seine kommunistische Partei als Schiedsrichter auf. Alle wirklichen politischen Fragen behandelten die Kommunisten derweil nach Gutdünken und unbehindert von jeglicher Kontrolle durch die Bürger.

Das klappte so lange, bis Tito 1980 starb und das Land in eine Wirtschaftskrise geriet. Denn nun begannen die Völkervertreter, sich um den kleiner werdenden Kuchen zu streiten. Die Nachfolger des großen Schiedsrichters - Politmanager aus der kommunistischen Nomenklatura - versuchten, das Land an Runden Tischen zu regieren. Doch bald schon stellte sich heraus, dass in vielen Punkten kein Kompromiss mehr gefunden werden konnte: Je weniger es zu verteilen gab, desto fester verhakten sich die streitenden Parteien ineinander - bis sie 1991 begannen, aufeinander zu schießen.

Mappes-Niediek betont, dass der Westen nicht für die inneren Widersprüche Jugoslawiens verantwortlich gemacht werden kann. Aber der Balkan-Spezialist stellt auch klar, dass die Probleme, an denen der Vielvölkerstaat gescheitert ist, den Europäern keineswegs fremd sein sollten: Die Frage, wie der Interessensausgleich zwischen Teilstaaten, Minderheiten und unterschiedlichen Lebensbedingungen organisiert werden kann, steht heute in der EU auf der Tagesordnung.

So bilden die Regierungen der 25 EU-Mitgliedsstaaten in allen wesentlichen Fragen einen Runden Tisch - genauso wie weiland die Führungen der Republiken Jugoslawiens: Die EU ist eine Volkswirtschaft, mit sehr verschiedenen regionalen und nationalen Identitäten. Dass Westeuropa sich Jugoslawien in allem überlegen fühlt, hat die Europäer aber bis heute gehindert, Lehren aus dem Zerfall des Balkanstaates zu ziehen. "Die Ethno-Falle" zeigt, dass die Jugoslawen ein historisches Minenfeld durchschritten haben, dass wir noch vor uns haben.


Norbert Mappes-Niediek:
Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann, Ch. Links Verlag, 223 Seiten, 14,90 Euro