Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Information kommt vor Meinung

Kosovo: Die genaue Zahl der Opfer kennt bisher niemand | Von Rüdiger Rossig

Seit über zwei Monaten wird die Zahl der Opfer des Kosovo-Krieges in den westlichen Medien diskutiert. Das ist kein Wunder: Denn die Kritik an den bisherigen Annahmen kommt von seriösen Forschern wie den spanischen Mitarbeitern des UN-Kriegsverbrechertribunals und Gutachtern aus den USA - Quellen also, die nicht in dem Ruf stehen, dem Belgrader Regime freundlich oder den Demokratien des Westens feindlich gesinnt zu sein.

Trotzdem und obwohl keiner der Kritiker in Zweifel zieht, dass es im Kosovo zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, hat sich bisher kaum ein westliches Medium der neuen Erkenntnisse angenommen, ohne sie sogleich zu kommentieren. Statt Leser, Zuhörer oder Zuschauer faktisch zu informieren, wird darauf beharrt, dass die Gründe für die Intervention der Nato unverändert gälten - was auch immer die neuen Studien an Zahlen nennen.

Dabei ist sicher richtig, dass angesichts der niedrigeren Opferzahlen aus dem Kosovo die längst belegten serbischen Massaker in Kroatien und Bosnien nicht in Vergesssenheit geraten dürften, wie Jon Swain in der Sunday Times betont. Ebenfalls unwiderlegbar ist, dass es ohne das Eingreifen der Nato im Kosovo durchaus noch zu einem Völkermord an den Albanern hätte kommen können, wie Michael Ignatieff in der New York Times schrieb. Nur: Was haben diese Anmerkungen mit den Berichten des spanischen Teams des UN-Kriegsverbrechertribunals oder des Stratfor-Institutes in Texas zu tun?

Weshalb wirft Ignatieff den spanischen Gerichtsmedizinern und den Stratfor-Mitarbeitern "Revisionismus" vor? Abgesehen davon, dass der Autor nicht klar macht, was es denn im Falle des Kosovo zu "revisionieren", also erneut zu überdenken gäbe -, hätte es nicht gereicht, über die Angaben der Kritiker und die des Kriegsverbrechertribunals zu berichten? Und das, bevor man in die Debatte um die Berechtigung des Krieges der Nato gegen Serbien einsteigt?

Die Basis jeder ernsthaften Diskussion sind Fakten - und diese werden frühestens in zwölf Monaten vorliegen. Dann nämlich wird das UN-Kriegsverbrechertribunal seine endgültigen Zahlen vorlegen, und diese werden, zusammen mit kritischen Äußerungen der beteiligten Gerichtsmediziner, Pathologen, Juristen und anderer Spezialisten die Grundlage für eine politische Diskussion bilden. Das Thema ist bereits heute bekannt: die rechtlichen, politischen und moralischen Grundlagen der Nato-Intervention in Jugoslawien.