Das Nachbarschaftszentrum "Krov" befindet sich in einer schmalen Dachgeschosswohnung im Zentrum von Belgrad. Der holzverkleidete Hauptraum erinnert an westdeutsche Partykeller aus den 1970er-Jahren. Normalerweise treffen sich hier Aktivistinnen und Aktivisten der Kulturinitiativen der serbischen Hauptstadt. Heute sitzen rund 30 junge Frauen und Männer auf Klappstühlen vor einer improvisierten Bühne. Es wird russisch gesprochen. Und wer will, kriegt ein Mikrophon und darf singen.
"Ich bin im April von Moskau aus hier angekommen", erzählt Ilya Pinsker, der das "Open Mic"-Treffen organisiert hat, im Gespräch mit der DW, "und zwar mit einem One-Way Ticket für mich, meine Mitarbeiter und meine Katze". Zusammen mit Schauspielern betreibt Ilya ein Tonstudio, das Audio-Inhalte von Musik bis zu Reklame produziert. "Seit dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar ist die Situation in Russland immer unerträglicher geworden. Wir mussten da einfach weg."
Direkt nach der Invasion unterstützte Ilya mit Freunden und Kollegen vom Krieg bedrohte Ukrainerinnen und Ukrainer per Telegram und anderen Messengerdiensten vom Sitz seiner Firma in der russischen Hauptstadt aus. "Einer von uns hat zum Beispiel einem jungen Mädchen per Chat beigebracht, wie man Auto fährt, damit sie ihre Familie aus einem Kampfgebiet bringen konnte. Ihre Mutter hatte eine Panikattacke und konnte daher nicht selbst fahren." Derartige Aktivitäten gelten in Putins Russland als Verrat, und Verrätern drohen mehrjährige Haftstrafen.
Trotzdem kam es für Ilya nicht in Frage, nichts gegen den Krieg gegen die Ukraine zu tun. "Dieser Konflikt ist für mich sehr, sehr nah", erklärt er, "viele meiner Freunde und Kollegen stammen aus der Ukraine, ihre Verwandten leben dort, einige haben sogar ukrainische Pässe. Ich muss diesen Leuten irgendwie helfen." Doch schon nach wenigen Wochen wurde klar, dass derartige Aktivitäten in Russland zu riskant waren. "Die Angst, dass irgendwann jemand an unsere Tür klopfen würde, wurde jeden Tag größer. Das Regime ist ja schon seit der Annexion der Krim 2014 immer aggressiver geworden. Klar, dass das jetzt, da Putin Krieg führt, noch schlimmer wird."
Aber warum gerade nach Serbien? Die Regierung in Belgrad hat Russlands Angriffskrieg zwar verurteilt - die Sanktionen gegen das Regime in Moskau aber unterstützt Serbien nicht. Große Teile der serbischen Öffentlichkeit fühlen sich Russland aufgrund der verwandten slawischen Sprachen und der gemeinsamen orthodoxen Religion verbunden, nicht nur die extreme Rechte in dem Westbalkanland unterstützt Putins Krieg offen
Trotzdem sind seit Ende Februar Schätzungen zufolge 30.000 bis 50.000 russische Staatsbürger nach Serbien gezogen. Offizielle Zahlen gibt es nicht, sicher aber ist: Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine haben zehntausende Russen Konten bei serbischen Banken eröffnet. Und mehr als 1000 Firmen, deren Inhaber russische Pässe haben, wurden bei der Industrie- und Handelskammer Serbiens registriert, die meisten im IT-Sektor.
"Ich habe mich für Serbien entschieden, weil es eines der wenigen Länder ist, wo Inhaber russischer Pässe nach wie vor ohne Visum einreisen dürfen", erklärt Katya Khazina. "Abseits dessen ist es natürlich schon ziemlich schizophren, dass ich als Putin-Gegnerin ausgerechnet in einem Land gelandet bin, in dem es viele Leute gibt, die das Regime in Russland unterstützen", so die 34-jährige Moskauerin weiter. "Aber ich halte das aus, weil ich weiß, dass das nichts ist im Vergleich zu den Schwierigkeiten, die Leute meistern müssen, die vor den Kämpfen in der Ukraine fliehen."
In Russland arbeitete Katya bei einem feministischen Verlag. Seit Jahren protestierte sie regelmäßig gegen das Putin-Regime. In Belgrad hat sich die junge Aktivistin der NGO "Frauen in Schwarz" angeschlossen, die schon in den 1990ern gegen die Kriege in Jugoslawien protestierten - und seit Ende Februar gegen Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch die serbischen Anhänger Putins demonstrieren regelmäßig - für Moskaus Krieg und einen Sieg Russlands.
"Das Verhältnis der Serben zu Russland ist merkwürdig", erklärt Katya. Tatsächlich lernen in Serbien nur wenige Menschen Russisch, kaum jemand ist jemals in Russland gewesen. "Die Serben kennen auch die Vorurteile vieler Russen gegen sie nicht, dass sie sie zum Beispiel bei der Lieferung von Essen als sehr langsame Arbeiter erleben, die auf einem sehr niedrigen Standard leben." Die Russland-Liebe vieler Serben beruhe vor allem auf "Unwissen über das Leben in Russland - ganz zu schweigen vom Ausmaß der Repressionen, der Brutalität, die das russische Regime sowohl in der Ukraine als auch gegen die eigenen Bürger ausübt, oder wie massiv die Propaganda ist".
Von vielen ihrer Landsleute in Belgrad hält Katya nicht viel. "Auf unsere Protestveranstaltungen kommen regelmäßig gerade mal 50 bis 100 von den zehntausenden Russinnen und Russen in Belgrad", berichtet sie im Gespräch mit der DW. "Die meisten Russen sind nach Serbien gekommen, weil zu Hause Spotify und Netflix nicht mehr funktionieren", fügt sie enttäuscht hinzu. "Unter ihnen sind sehr, sehr viele unpolitische Leute."
Tatsächlich hat die Facebook-Gruppe "Russen, Ukrainer, Belarussen und Serben gemeinsam gegen den Krieg" gerade mal 3624 Mitglieder. "Das heißt aber nicht viel", erklärt ihr Betreiber Peter Nitkin, "die meisten in unserer Gruppe sind Serben oder stammen aus den anderen Ländern der Westbalkan-Region". Zweck des Facebook-Auftrittes sei vor allem, die serbische Öffentlichkeit über Aktivitäten gegen den Krieg in der Ukraine zu informieren, an denen Russen beteiligt sind. "Contra-Propaganda" nennt Nikitin das.
Informationen über Russen und Russland hat die serbische Öffentlichkeit bitter nötig - denn neben der weit verbreiteten Russophilie stößt man in Belgrad auch schnell auf Menschen, die eine abgrundtiefe Abneigung gegen alles hegen, was aus der ehemaligen Sowjetunion kommt. Der Kellner im Restaurant "Mala Slavija" etwa "hasst Russen und Ukrainer" gleichermaßen: "Die haben keine Manieren und denken, weil sie Geld haben, können sie sich alles erlauben", sagt er. Dass es in Serbien auch Menschen aus den postsowjetischen Staaten gibt, auf die das nicht zutrifft, mag der Mann nicht glauben.
Viele Serben stört zudem, dass die Neuankömmlinge aus Russland den Wohnungsmarkt belasten. Der ist in Serbien vergleichsweise klein, weil die meisten Bürgerinnen und Bürger ihre Wohnungen nach dem Ende des "real existierenden Sozialismus" gekauft haben und selbst bewohnen. Schon vor Beginn des Kriegs in der Ukraine war bezahlbarer Wohnraum in der serbische Hauptstadt knapp.
"Besetzen die Russen Belgrad?", fragte im April 2022 die Boulevardzeitung Blic reißerisch. "Die Russen kaufen Wohnungen und Wochenendhäuser und scheren sich nicht um den Preis", hieß es in dem Blic-Beitrag. Immobilienmakler meinen, die Mieten in der serbischen Hautstadt hätten sich seit dem russischen Angriff auf die Ukraine verdoppelt.