Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Kultur des Wegschauens

Das Bundeskartellamt hätte längst Hinweise auf Absprachen in der Autoindustrie haben müssen. Dass die Politik nichts wusste, ist unplausibel | Von Ingo Arzt, Heike Holdinghausen, Eric Bonse, Christian Rath und Rüdiger Rossig

1. Was genau haben die Autobauer abgesprochen?
VertreterInnen der Autokonzerne Audi, BMW, Daimler, Porsche und VW sollen jahrelang in geheimen Zirkeln Absprachen über ihre Fahrzeuge, Kosten, Zulieferer und den Umgang mit dem Thema Dieselabgase getroffen haben. Nach Angaben des Spiegels soll es entsprechende Selbstanzeigen von Daimler und VW bei den Wettbewerbsbehörden geben.

2. Sind Absprachen über Technik schon ein Kartell oder müsste man den Autobauern auch Preisabsprachen nachweisen?
Als Kartell gilt jede Absprache, die den Wettbewerb beschränkt oder verhindert. Natürlich gehören Absprachen über Preise dazu, aber auch über Produktionsmengen, die Aufteilung von Vertriebsgebieten oder andere Kooperationsmengen. Kartelle können auch erlaubt werden, wenn sie den Kunden nutzen oder etwa zur Sanierung einer Branche notwendig sind. Erforderlich ist dann eine Freistellung oder Erlaubnis der EU-Kommission oder des Bundeskartellamts. VW, Audi, Porsche, Daimler und VW betreiben seit 1996 in Weissach das Abgaszentrum der Automobilindustrie (ADA). Zweck der Gesellschaft ist die „vorwettbewerbliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Abgasnachbehandlung“. Das Bundeskartellamt teilte laut Handelsblatt 1997 mit, es werde das Vorhaben „kartellrechtlich nicht verfolgen“.

3. Bekommen die KäuferInnen ihr Geld wieder – wenigstens teilweise?
Eine Angriffsfläche für die Kundschaft könnten die zu klein bemessenen AdBlue-Tanks liefern, sagt Otmar Lell, Leiter des Teams Recht und Handel bei der Verbraucherzentrale Bundesverband in Berlin. Die Chance liegt im Kartellrecht und klingt ein bisschen kompliziert: Ist das entsprechende Auto nur wegen des Kartells so konstruiert, wie es ist und hätte es ohne Kartell einen größeren Tank? Dann hätte ich als Kundin/Kunde – ohne Kartell – ein anderes Auto gekauft und dürfte ein solches anderes Auto auch erwarten. „Diese Argumentation wäre eine Möglichkeit“, so Lell, „ist aber juristisch noch nicht erprobt.“ Daher will der Verbraucherschützer auch niemandem raten, sein Geld auf diese Weise zurückzufordern, denn das Kartellrecht stellt nach wie vor hohe Hürden auf, wenn ein Verbraucher seinen Schaden geltend machen will. „Dazu müsste ein Käufer nachweisen, dass bei ihm ein ganz konkreter Schaden entstanden ist“, sagt Lell. Dieser Nachweis sei im Grunde nicht möglich. Etwa ein erhöhter Preis für ein Fahrzeug könnte auch dem Autohändler geschadet haben, der mit einer niedrigeren Marge leben musste. Im besten und wahrscheinlichsten Falle, so Lell, wird die zuständige Kartellbehörde ein Bußgeld für den Konzern festlegen: „Das kommt der Staatskasse zugute, nicht aber den Kunden.“ Geld zurück? Schön wär’s.

4. Arbeiten deutsche und EU-Kartellbehörden jetzt zusammen?
Im Prinzip ja. Nach Angaben der Bundesregierung in Berlin kümmern sich die Wettbewerbshüter in der Kommission der Europäischen Union in Brüssel um den Fall. Auch das Bundeskartellamt verfüge über die nötigen Informationen, eine Prüfung werde aber nur von einer Institution übernommen, so eine Sprecherin des deutschen Bundeswirtschaftsministeriums am Montag in Berlin – was aber bei der EU in Brüssel nicht bestätigt wurde. Man prüfe noch die vorliegenden Informationen, so ein Sprecher der Kommission. Ob diese Infos tatsächlich ausreichen, um ein offizielles Kartellverfahren einzuleiten, ließ er offen. Klar ist also derzeit nur, dass am Ende nur eine Behörde ermitteln wird. Da das Bundeskartellamt offenbar nicht tätig werden soll oder will, liegt der Schwarze Peter nun in Brüssel. Dort wird Kommissionsvizepräsident Jyrki Katainen die Federführung übernehmen – was zeigt, wie ernst man die Affäre in der EU nimmt.

5. Warum wurde nicht schon früher eine Behörde skeptisch?
Um die Dieselabgase zu reinigen, wird in die Abluft sogenanntes AdBlue eingespritzt, die Flüssigkeit aus Harnstoff und demineralisiertem Wasser bindet die Schadstoffe. Um die Abgase aus 100 Liter Diesel sauber zu bekommen, rechnen unabhängige Experten mit 4 bis 6 Liter AdBlue – was die Tanks für die Flüssigkeit ziemlich groß macht. Deshalb, so der Verdacht jetzt, haben sich die Autobauer dabei abgesprochen, kollektiv die Abgasgrenzwerte zu überschreiten, um die Tanks klein halten zu können. Trotzdem variieren die Größen der AdBlue-Tanks laut Verkehrsclub Deutschland (VCD) erheblich – zwischen 11 Litern beim VW Touran und 38,7 Litern bei einem riesigen SUV von Mercedes-Benz. Aus der Tankgröße allein lässt sich also kein Verdacht ableiten. Allerdings, sagt Gerd Lottsiepen, verkehrspolitischer Sprecher des VCD, seien alle Tanks zu klein. Es müsse dem Kraftfahrzeugbundesamt seit Jahren offenkundig gewesen sein, dass bei den deutschen Autobauern kollektiv geschummelt wird. „Ich hab den Verdacht, dass sämtlich Bundesbehörden da ziemlich blind waren oder blind sein sollten. Zwischen Kraftfahrtbundesamt und der Autoindustrie herrscht seit Jahren Kumpanei, die Behörden schauen weg.“ Hinweise auf Absprachen hätten schon längst an das Bundeskartellamt übermittelt werden müssen, so Lottsiepen. Der Automobilexperte Stefan Bratzel vom Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach spricht allgemein von einer „Kultur des Wegschauens“ bezüglich der Autoindustrie.

6. Wie plausibel ist es, dass die deutsche Politik von all dem nichts mitbekommen hat?
„Nun, das ist vollkommen unplausibel“, sagt Sabine Leidig, verkehrspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag. „Vertreter von Autoverbänden und Konzernen gehen regelmäßig in den Ministerien und im Bundeskanzleramt ein und aus“, so Leidig, „dabei entwickeln sich Vertrautheiten.“ Natürlich habe es keine offizielle Mitteilung darüber gegeben, dass die Autofirmen sich absprechen. Aber es sei unwahrscheinlich, dass die Regierung keine Kenntnis hatte. Auch ihr Kollege Oliver Krischer von den Grünen glaubt das nicht: „Informationen über zu kleine AdBlue-Tanks gibt es seit Längerem“, sagt der Abgeordnete. Es sei kaum zu glauben, dass das Verkehrsministerium nicht schon seit Monaten darüber Bescheid wusste. „Ich habe Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt im Frühling darauf angesprochen; Seine Antwort war, er wisse von nichts“, so Krischer. „Natürlich drängt sich der Verdacht auf, dass die Bundesregierung über Kartellabsprachen hinweggeschaut hat und ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen ist. Das werden wir bei der beantragten Sondersitzung des Verkehrsausschusses klären, wenn sie vom Bundestagspräsidenten genehmigt wird.“ Ulrich Lange, verkehrspolitischer Sprecher der Union, haut von der anderen Seite in diese Kerbe: „Ich erwarte von den zuständigen Stellen eine schnelle und gründliche Prüfung“, sagt Lange, „haben Autobauer seit vielen Jahren illegale Absprachen getroffen, gab es ein illegales Kartell? Bislang vermisse ich klare Antworten von der für Wettbewerb und Wirtschaftspolitik zuständigen Bundesministerin Brigitte Zypries!“

7. Hätte es den Dieselskandal ohne das angebliche Autokartell auch gegeben?
Dafür spricht einiges. Die deutsche Autoindustrie hat kollektiv gehandelt, um durch Lobbyarbeit in Berlin und Brüssel härtere Auflagen zur Reinigung der Abgase zu verhindern. Kein Hersteller scherte dabei aus. Den Versuch, durch saubere Autos einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen, unternahm kein deutscher Autohersteller – weshalb auch weder VW noch Daimler oder BMW darauf pochten, dass die Politik für klare Umweltregeln sorgt. Stattdessen boxte die Bundesregierung brav für die Phalanx der deutschen Autobauer in Brüssel durch, die Regeln für Schadstoffgrenzwerte zu durchlöchern. „Die deutschen Autohersteller konnten sich ja sicher sein, dass die Konkurrenz nicht auf den erhöhten Stickoxidwerten herumreitet. Es ist echt erstaunlich, dass sich Volkswagen freiwillig so lange allein an den Pranger stellen ließ“, sagt VCD-Experte Gerd Lottsiepen. Für die EU-Kartellbehörden werde es nun interessant sein herauszufinden, inwieweit andere Autobauer dadurch einen Wettbewerbsnachteil hatten. Etwa die französische PSA-Gruppe mit den Marken Peugeot und Citroën.

8. Wie lange dauern Kartellverfahren jetzt und mit welchen Strafen müssen die Autobauer rechnen?
Das Kartellverfahren kann einige Jahre dauern. Zum Vergleich: 2011 leitete die EU-Kommission ein Verfahren wegen Preisabsprachen ein. Erst 2016 verhängte sie dann Milliardenbußgelder. Die Kommission kann bei Kartellverstößen Geldbußen in Höhe bis zu 10 Prozent des Jahresumsatzes eines Unternehmens verhängen. VW etwa setzte 2016 rund 217 Milliarden Euro um, also könnte die maximale Geldbuße 21,7 Milliarden Euro betragen.

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