Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Der kroatische Kampf um Vukovar

Heute, mehr als zwanzig Jahre nach der Zerstörung der Stadt und der Vertreibung ihrer ehemaligen Bewohner, ist Vukovar das kroatische Kosovo, dessen Mythos immer wieder fortgeschrieben wird. Da sind sich die Dichter einig, die das Martyrium und Heldentum Vukovars beschwören, auf dass die kroatische Nation rekonstruiert werden wird, auch wenn dieser Mythos am Ende Vukovar zerstören wird. So muss das laufen, alles geht in diese Richtung. Uns bleibt nur, zuzusehen und vor Entsetzen zu erstarren.

Vor kurzem wurden die Ergebnisse einer Volkszählung aus dem Jahre 2011 veröffentlicht. Die Auszählung hatte lange gedauert, viel länger als in der Zeit, als es noch keine Computer gab, so wie im ehemaligen Jugoslawien. Vielleicht hat es auch deshalb so lange gedauert, weil das Statistische Amt einräumen musste, dass es diesem Zensus zufolge in Vukovar mehr als 35 Prozent Serben gibt. Nach dem Gesetz über die nationalen Minderheiten, das in die kroatische Verfassung aufgenommen wurde, um mit der EU die Beitrittsverhandlungen beginnen zu können, haben diese 35 Prozent Mitglieder der serbischen Minderheit das Recht auf die Benutzung ihrer Sprache und Schrift. Das bedeutet, dass Vukovar wieder, wie vor 1991, eine Stadt sein wird, in der auch die Vukovarer Serben ihre Rechte haben. Alle öffentlichen Bekanntmachungen müssten nun in beiden Alphabeten veröffentlicht werden, auf lateinisch und auf kyrillisch. Die Sprache selbst ist eher zweitrangig, die unterscheidet sich ohnehin kaum voneinander.

Natürlich wird Vukovar – oder das, was davon übrig geblieben ist – in Kroatien bleiben. Die Stadt kann ja nirgendwo anders hingehen, und ein Wunder – wie in den Filmen von Emir Kusturica oder den Romanen von Gabriel Garcija Marquez – ist auch nicht möglich, etwa dass Vukovar über Nacht mit Hilfe des Kyrillischen über die Donau setzt und auf ihre östliche, serbische Seite umzieht.

Wütende Öffentlichkeit

Alleine die Möglichkeit, dass dieses Gesetz angewandt wird, und die Serben in Vukovar tatsächlich ihre Rechte einfordern und bekommen, hat die Öffentlichkeit elektrisiert. Wütende Proteste gab es nicht nur bei der nationalistischen Rechten und innerhalb der radikal katholischen Hälfte der Gesellschaft. Auch die politische Opposition lief Sturm, sekundiert von den herrschenden politischen und kulturellen Eliten, angetrieben von der aggressiven Rechten, aber noch mehr von der Furcht, dass in Kroatien noch jemand – im buchstäblichen Sinne des Begriffs – existieren könnte außer Kroaten. Branka Kamenski, Redakteurin beim öffentlich-rechtlichen Kroatischen Fernsehen, erklärte in einer ihrer Sendungen, dass die Kroaten mit dem Kyrillischen so vorsichtig sein müssten, wie die Israelis mit Richard Wagner. Das ist genau das bei den Rechtsextremen in den Transformations-Demokratien Osteuropas so beliebte Muster: Immer wieder wird die eigene Minderheitenpolitik mit der Politik Israels begründet oder kritisiert.

Dabei steht – natürlich – hinter jedem dieser kroatischen (oder moldawischen oder ungarischen) Fans des jüdischen Staates und seiner Politik gegenüber den Arabern eine heimlicher Antisemit. Fragen Sie mal einen, der so argumentiert, wo die Juden in Jugoslawien nach 1941 blieben. Die Antwort wird immer dieselbe sein, weil die Frage tief am Nationalstolz der Kroaten, Ungarn und Rumänen kratzt. Also heißt es: Wenn es schon einen Holocaust gab, dann seien einzig Hitler und die Deutschen schuld daran.

Aber Branka Kamenski ist keine moldawische Rechte, sondern ein Günstling der derzeitigen sozialdemokratischen, linksliberalen Regierung in Zagreb, die sich gegenüber Brüssel mit ihrem Kosmopolismus brüstet. Wenn diese Politiker jedoch aus Brüssel zurückkehren, stören auch sie sich am Vukovarer Kyrillisch.

Der Nachkrieg ist noch nicht zu Ende

Als im Januar 2013 Demonstrationen gegen das Kyrillische in Vukovar organisiert wurden, kamen sie zu Tausenden in Autobussen aus ganz Kroatien. Im Večernji List, der auflagenstärksten Zeitung, hieß es, es sei ein Unglück für Kroatien, dass der Krieg in Vukovar mit der sogenannten „friedlichen Reintegration“ der serbischen Minderheit unter Aufsicht der Vereinten Nationen geendet habe. Vielmehr wäre es besser gewesen, wenn der Krieg mit einer weiteren „Aktion Sturm“ beendet worden wäre. Auch wenn die rechten Kommentatoren – ebenso wie die gesamte politische Nomenklatura im Staat – nicht zugeben, dass die tatsächliche „Aktion Sturm“ eine Vertreibung von Serben aus Teilen Kroatiens war, suggerieren sie nun genau das: Man hätte sie aus Vukovar vertreiben sollen! Nach den ersten Demonstrationen gegen das Kyrillische meldete sich auch der Bürgermeister Vukovars, der linke Politiker Željko Sabo zu Wort. Er gab nicht nur zu, dass auch er gegen das Kyrillische sei. Er gestand sogar, dass er vor einigen Jahren selbst im Schutz der Nacht kyrillische Aufschriften in der Stadt entfernt habe. Empörung? Fehlanzeige. Und natürlich fragte auch niemand, was das denn für eine Sozialdemokratie ist, die sich solcher Taten brüstet.

Noch immer weiß die Regierung in Zagreb nicht, was sie tun soll. Aus Brüssel heißt es unmissverständlich, dass die in der Verfassung verankerten Rechte der nationalen Minderheiten in die Praxis umgesetzt werden müssen. Falls dies unterbliebe, bedeute dies, dass Kroatien bei den Verhandlungen über den Beitritt zur Europäische Union mit falschen Karten gespielt habe und die politische und kulturelle Elite im Staat alles daran setze, europäisches Recht in Vukovar zu hintertreiben.

Auf der anderen Seite stehen die Kriegsveteranen. Auch sie drohen. Wenn die Regierung auf das Anbringen kyrillischer Schilder besteht, müsse sie gewaltsamen gestürzt werden. Stolz verkünden die Veteranen dann in den Nachrichten des kroatischen Fernsehens, dass sie 1991 „in den Krieg gegen das Kyrillische gezogen sind“ und nun nicht zulassen würden, dass sie diesen Krieg zwei Jahrzehnte später ohne jeden Kampf verlieren. Obwohl das kroatische Fernsehen von der Regierung kontrolliert wird, mit deren Sturz sie drohen, will diese Regierung nichts tun, um diese Art von Verbreitung von Hass und Angst im Staat zu unterbinden.

Den Herrschenden gefallen die Drohungen sogar, auch wenn sie gegen sie selbst gerichtet sind. Denn sie wissen, dass die wachsende Wut der Volksmassen, stimuliert von der Wirtschaftskrise und einer wachsenden Arbeitslosigkeit, dann nicht dem politischen Zagreb gilt, sondern zum Beispiel jenen Intellekturellen und Journalisten, die versuchen, die Gründe für die Einführung des Kyrillischen rational zu verteidigen. Und natürlich richtet sich die Wut des Mobs auch gegen die Serben in Vukovar selbst.

Das einzige, was die Regierung besorgt hat, war, dass zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Demonstrationen gegen das Kyrillische nur noch sechs Monate bis zum Beitritt zur Europäischen Union im Juni 2013 lagen. Wäre Kroatien zu diesem Zeitpunkt bereits in der EU gewesen, hätten sie ohne Federlesens gezeigt, wie sie mit dem Kyrillischen und den Rechten der nationalen Minderheiten umgegangen wären. Das Ungarn Viktor Orbáns hat es schließlich vorgemacht.

Eine tote Stadt

Die andere Seite des Vukovar-Mythos ist die Vernachlässigung der realen Stadt und ihrer Einwohner seit nunmehr 22 Jahren. Auch wenn ein großer Teil der Gebäude wieder aufgebaut wurde, ist die Stadt im eigentlichen Sinn tot. Von Zagreb aus gesehen scheint es manchmal, als seien in Vukovar einzig die Friedhöfe und die Orte, unter denen die Massengräber liegen, lebendig. Nur dort geschieht etwas: Gedenkveranstaltungen werden abgehalten, Jahrestage begangen, Kriegsveteranen kommen mit nationalen Symbolen und ihren Kriegsfahnen, die aus irgendeinem Grund immer schwarz sind.

Die Mütter gefallener Märtyrer zünden Kerzen an, die Mütter derer, deren Körper nie gefunden wurden, schluchzen an den Gräbern ihrer Söhne, politische Delegationen haben sich in billige Konfektionsanzüge geworfen und legen Kränze nieder, auf denen das kroatische Nationalwappen aus roten und weißen Nelken prangt. Kinder und Enkel weinen an den Gräbern ihrer Väter, Bischöfe und die niedere Geistlichkeit beten öffentlich in reichem Ornament zu Gott, Kessel schwenkend, durch deren Glas hindurch der Geruch von Weihrauch entweicht. Dann halten sie Predigten, die sich bald in politische Reden verwandeln, und bei diesen politischen Reden auf den Vukovarer Friedhöfen, auf den Gräbern von Vukovar, lassen sie nicht die Gelegenheit verstreichen, auch der kroatischen Opfer des Zweiten Weltkrieges zu gedenken, die die jugoslawischen Partisanen und Antifaschisten 1945 aus Rache und Vergeltung ermordet hätten.

Keiner dagegen erinnert in Vukovar an die Partisanen und an die Opfer, die sie im Zweiten Weltkrieg gebracht haben. Auch nicht an den Holocaust erinnern sie sich und den Völkermord an den Serben, der in diesem Krieg begangen wurde. Wenn Sie fragen, warum in Vukovar nie die Partisanen erwähnt werden, wohl aber die Toten der faschistischen Ustascha, wird man Ihnen wütend entgegenschleudern, warum die selben Partsanen wie 1941 auch 1991 Kroaten getötet haben? So ist das, wenn es um einen Mythos geht.

Das Kreuz als Denkmal

Am Flüsschen Vuka, das bei Vukovar in die Donau mündet, befindet sich ein Denkmal zur Erinnerung an die Verteidiger der Stadt. In der Form eines großen, massiven Kreuzes, in dessen Seite ein kroatisches Nationalsymbol gemeißelt wurde, wurde es zu einem der neuen Symbole der Stadt. Niemand würde es in Kroatien als unangemessen empfinden, dass die Gedenkstätte die Form eines Kreuzes hat. Als wären alle diese Leute in den Kreuzzügen des Mittelalters gefallen, im Kampf gegen Sarazenen und Häretiker, als hätte sie im Sommer 1991 Papst Johannes Paul II. in den Krieg geschickt, nachdem er sie zu Mönchen geweiht hat: Dieses Denkmal stellt, genauso wie der ganze kroatische Vukovar-Mythos, eine solide und unzerbrechliche Verbindung des weltlichen und des himmlischen Kroatiens dar, in der Einheit der kollektiven Idee vom Staat und der kollektiven Idee von Gott.

Ist es überhaupt möglich, vor dieses Denkmal zu treten und sich nicht zu bekreuzigen und nicht zu Gott zu beten, alles nach katholischem Ritus? Wirst du nicht, wenn du das unterlässt, als Feind oder feindlicher Spion verdächtigt werden?

Das waren die Fragen, die ich mir stellte, als ich vor einigen Jahren an einem spätherbstlichen Vorabend vor diesem Kreuz stand. Ich habe nicht gebetet und mich auch nicht bekreuzigt, obwohl ich das Gefühl hatte, dass mich jemand von irgendwo aus beobachtet. Denkmäler wie diese sind in Vukovar keine Erinnerungsorte, sondern Mittel der Repression.

Aus Nachbarn wurden Feinde

Das Kreuz ist noch aus einem weiteren Grund unpassend. Der Krieg in Jugoslawien begann schlagartig und ohne großes Vorspiel. Noch einige Monate zuvor, im Frühjahr 1991, lebten alle ganz normal in Vukovar. Sie gingen zur Arbeit, spielten am Samstag Nachmittag Fußball mit den Arbeitskollegen, sie lebten den Alltag des entwickelten jugoslawischen Sozialismus. Die Mehrheit der jungen Männer, die im Verlauf der sechzi­ger Jahre geboren wurden, war weder getauft, noch gingen sie in die Kirche. Sie konnten nicht einmal ein Gebet aufsagen.

Ein halbes Jahr später waren diese jungen Leute bereits tote Helden, getötet bei der Verteidigung der Stadt oder ermordet bei den Massengräbern, nachdem die Stadt bereits gefallen war. Ist es ihnen in diesen paar Monaten gelungen, das Vaterunser auswendig zu lernen, erlebten sie im Krieg eine Bekehrung oder sind sie – was wahrscheinlicher ist – bei der Verteidigung ihrer Häuser und ihrer Stadt gegen den Angriff der Jugoslawischen Volksarmee gefallen und dabei nicht wirklich dazu gekommen, an Gott und die Kirche zu denken?

Zudem: Was bedeutet dieses Kreuz, dass auch von manchem Ort in Serbien gesehen werden kann, wenn auf der anderen Seite, am östlichen Ufer der Donau, ein weiteres, etwas anders gestaltetes Steinkreuz steht, sichtbar von Kroatien aus und für die errichtet, die Vukovar angegriffen oder irgendwo um die Stadt herum ihre serbischen Dörfer gegen die Kroaten verteidigt haben? Was geschieht eigentlich, wenn man mit einem katholischem Kreuz auf ein orthodoxes Kreuz schießt und umgekehrt?

Theokratische Wende

Der Einsatz des Kreuzes im Krieg gegen das Kreuz – das ist nur auf den ersten Blick unsinnig. Kreuzförmige Denkmäler wie auch die Anbindung nationaler und nationalistischer Motive an Kreuzrittertum und religiöse Motivationen, haben ihren Sinn im Kampf um die Transformation einer säkularen Gesellschaft, wie sie in ganz Europa besteht, zu einem Glaubensstaat, einer Art europäischem Iran, in dem Bischöfe und Erzbischöfe auftreten wie staatliche Glaubensführer. Ihre Ansichten sollen künftig entscheidend sein bei allen Frage, die die Gemeinschaft betreffen: von Sex vor der Ehe, Abtreibung und Nacktheit am Strand bis hin zu Außenpolitik und wirtschaftlicher Entwicklung.

Kroatien ist in diesem Sinne weit mehr als Serbien auf gutem Weg, eine getarnte Theokratie zu werden, denn in Kroatien äußern Bischöfe tatsächlich ihre verbindlichen Gedanken zu allen gesellschaftlichen Fragen – und wenn jemand aus der Regierung es wagt, zu widersprechen, wie es Erziehungsminister Željko Jovanović getan hat, indem er die kirchliche Haltung zur Gesundheitserziehung ablehnte, kann es schon vorkommen, dass ein Bischof das Volk zum Aufstand aufruft, von der „Säuberung“ Kroatiens durch eine neue „Aktion Sturm“ spricht und der Zagreber Weihbischof Valentin Pozaić sich öffentlich in seinen über die elektronischen Medien verbreiteten Predigten fragt, „ob Ministar Jovanović eine Vagina hat“?

Und was hat das alles mit Vukovar und dem kroatischen Vukovar-Mythos zu tun? Im Schatten dieses Mythos, in der demütigen Stimmung, die die Erzählung von hunderten und tausenden getöteten Menschen schafft, entsteht das Umfeld für Predigten über die Verderblichkeit von vorehelichem Sex, die verbrecherische Natur der serbischen Volks, den „Unabhängigen Staat Kroatien“ der faschistischen Ustascha als Erfüllung jahrhundertealter kroatischer Träume, die Ustascha als Befreier und Recht- Schaffer, den teuflischen Charakter von Präservativen, den Juden, die das weltweite Bankgeschäft beherrschen und ehrliche Katholiken und Christen durch Wucherzinsen vernichten. All das also, was die kroatische, nationalistische Rechte heute predigt, angeführt von einer katholischen Kampf-Geistlichkeit und einer großen Mehrheit der kroatischen Bischöfe. Vor dem „Opfer Vukovars“, unter dem steinernen Kreuz mit dem eingemeißeltem kroatisches Nationalsymbols, sind wir alle gezwungen, zu schweigen und zu Gott zu beten, während die Patrioten und Bischöfe sehr laut von Themen sprechen, die mit dem Krieg nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.

Hoffnung Donau

Die Grenze zwischen Serbien und Kroatien ist, im Gegensatz zu den meisten inneren Grenzen auf dem Balkan, relativ neu. So wie sie nun verläuft, besteht sie zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg. Das längste Stück dieser Grenze bildet die Donau. Auf dem rechten Ufer liegt – normalerweise – Kroatien, auf der rechten Serbien.

Weit, schiffbar und tief verläuft die Donau wie eine prächtige Autobahn und trennt zwei arme, geistig wie materiell verödete Länder. Sie trennt zwei Kulturen und zwei nationale Mythen, die zum größten Teil aus gegenseitiger Abneigung bestehen. Das gilt besonders für die kroatische Kultur, denn sie kommt aus dem kleineren, schwächeren Volk. Unter kroatischer Kultur versteht man das, was nicht serbische Kultur ist. Die kroatische Sprache ist die, die nicht serbisch ist. Wenn es Serbien und die Serben nicht gäbe, wäre es schwer zu definieren, was kroatische Kultur ist, und inwiefern sich die kroatische Sprache vom, sagen wir, Chinesischen unterscheidet.

Die Donau aber ist weder bestimmt dazu, eine Grenze zu sein, noch eine Waffenstillstandslinie. Ein so großer, friedlicher, mächtiger Fluss verbindet verschiedene, oft auch sehr entfernte Kulturen, Identitäten und Sprachen. Die Donau ist eine natürliche Verkehrsader, wahrscheinlich sogar die sicherste in Mittel – und Osteuropa. Die Donau, weit und schön, hat ihre Ufer immer verbunden und nicht geteilt.

Die Donau kann nicht die Grenze zwischen den Welten sein, selbst dann nicht, wenn sie Grenze zwischen zwei Staaten ist. Wenn die Donau Serben und Kroaten trennen würde, so wie die kroatischen und serbischen Nationalisten sich das wünschen, dann müsste sie sich in ein schmales, seichtes, verschmutzes Flüsschen verwandeln, in das sich von der linken Seite die kroatische, von der rechten die serbische Kanalisation ergießt und wo sich im Namen des gemeinsamen Hasses serbische und kroatische Scheiße mischt. Und das wäre die einzige Verbindung zwischen den Völkern. Aber vergebens: In Anbetracht aller Anstrengung und aller serbischen und kroatischen Beflissenheit kann man die Donau nicht in einen dreckigen kleinen Bach verwandeln. Und auch nicht in eine bloße Waffenstillstandslinie. Dieser Fluss wird für immer seine Ufer verbinden, wer auch immer auf der einen oder auf der anderen Seite leben mag. Städte kann man zerstören und erniedrigen, aber einen großen Fluss niemals.

Wenn immer ich nach Vukovar komme – ich war dort in den vergangenen zehn Jahren nur drei oder vier mal – vergesse ich die Traurigkeit, Beklemmung und Übelkeit, die ich beim Anblick des zerstörten Stadt empfinde, sobald ich mich an den großen Fluss begebe. Die Donau ist die Hoffnung Vukovars, das Versprechen der Zukunft, der Rettung und des Lebens. An der Donau ist Vukovar lebendig mit einem Blick auf die andere Seite, die auf einmal ebenfalls lebendig ist.

Autor: Miljenko Jergović
aus dem Kroatischen: Rüdiger Rossig

Veröffentlicht auf den Seiten 62-72 des Buches: Uwe Rada / Andrej Ivanji (hg.), Geschichte im Fluss: DONAU-Brücken der Erinnerung, Originalausgabe Mai 2013 © Onlinedossier: Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte, www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-im-fluss/, Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de 2013, Creative Commons-Lizenz by-nc-nd/3.0/de, Printausgabe: Geschichte im Fluss, Donau, Brücken der Erinnerung, in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ GmbH), Design: Ivan Hrašovec, Druck: Publikum, Belgrad

Geschichte am Fluss